Sonntag, 17. Oktober 2010

FEIER DER BEDEUTUNGSLOSIGKEIT (Durch den Vordereingang hinaus)

Es war Monate her, seit ich Heilmann zuletzt gesehen hatte. Die Prinzessin und ich betraten die kleine Buchhandlung durch den Seiteneingang, den Heilmann mir im Februar gezeigt hatte. Hinter einem offenen Holzverschlag öffnete sich von draußen uneinsehbar eine Holztür, deren blauer Lack in breiten Placken absplitterte. Den Schlüssel verbarg Heilmann in einem Säckchen mit Reparaturwerkszeug, das an die Klinke gebunden war. Wir gelangten so direkt in die Küche, die Heilmann sich im Hinterzimmer eingerichtet hatte: zwei Kochplatten und eine Kaffeemaschine auf einem wackligen Campingtisch, in der Mitte des Raumes ein klobiger, verkratzter Eichentisch. Heilmann lehnte im Durchgang zur Buchhandlung, den Kopf lauschend zur Seite geneigt, als warte er tatsächlich darauf, dass die Türglocke den Eintritt eines Kunden ankündigte. Am Tisch saßen die Avatare: Robert Werner, dessen Blondhaar immer noch füllig aus der Stirn gestrichen war, die graue Edith Achter, die sich mit Fleiß alle Farbigkeit aus Kleidung,  Wangen und Haar getilgt hatte und  Krister Bergmann, der leise rhythmisch aus seinen Fettschichten heraus schniefte. Der Tisch war voll gestellt mit Kuchen- und Keksschachteln, Chipstüten, Wein- und Wasserflaschen, zwei Jägermeister-Fläschchen und einer geblümten Kaffeekanne. Heilmann hielt eine Weinflasche direkt in der Hand, Edith einen Kaffeepott im Schoß, Werner und Bergmann hatten Rotwein in Zahnputzbechern, auf denen „3x täglich“ stand, vor sich stehen. Sie saßen bewegungslos da und schwiegen. Keiner schaute auf, als die Prinzessin und ich hereinkamen. Falls Heilmann durch eine Bewegung der Weinflasche ein Signal des Erkennens von sich gab, war es so dezent gesetzt, dass es kaum bemerkt wurde. Ich suchte seinen Blick. Er schaute an mir vorbei auf Bergmanns Hand am Becher. Ich spürte, wie sich die Prinzessin an meinem Arm verkrampfte. Rasch schob ich ihr einen leeren Stuhl unter den Hintern, bevor sie loslegen konnte. „Setz dich doch.“ Das stoppte sie jedoch nur kurz. „In eine redselige Runde sind wir hier geraten.“, stieß sie, jetzt sitzend, hervor. Bergmanns Fettschichten wogten sanft. Heilmann setzte die Weinflasche an den Hals. Edith nahm einen Schluck aus ihrem Pott. Mir wurde klar, dass ich die Prinzessin hätte warnen müssen. Sie klopfte mit dem Absatz auf den Boden: "Ist da jemand?" Werners Mundwinkel zuckten. Noch immer konnte ich Heilmanns Blick nicht finden. Edith dagegen starrte mich an. Ihre Miene drückte Missbilligung, beinahe Hass aus. In dem Moment gab ich ihr Recht. Wir hatten hier nichts zu suchen. Die Prinzessin aber gab nicht auf: "Könnt ihr nicht reden? Seid ihr stumm?" Werner ließ sich zu einem: "Nein" hinreißen und Bergmann fragte tatsächlich: "Wollen Sie was trinken?". "Ja, gerne", antwortete die Prinzessin, als seien wir beim Kaffeeklatsch. "Eine Tasse Kaffee hätte ich gerne." Heilmann löste sich von der Wand und machte sich an der Kaffeemaschine neben den Kochplatten zu schaffen. Edith knallte ihren Pott hörbar auf den Tisch. "Scheiße", mumelte Heilmann. Er hatte das Kaffeepulver neben den Filter gegossen und eine Riesensauerei veranstaltet. Mit der Hand wischte er ein wenig vom Pulver auf den Boden.  Er sah Edith hilfesuchend an, doch die ignorierte ihn. "Kein Problem", sagte ich, "wir nehmen auch gern ein Glas Wasser." "Ist Kaffee aus?", fragte die Prinzessin, die noch nichts von dem Malheur mitbekommen hatte. "Ja, ja", sagte ich , schüttete ihr ein Glas ein und drückte es ihr in die Hand. "Melusine", rief sie jetzt, "sind wir in ein Kulturkrematorium geraten?" Edith verdrehte angeekelt die Augen. "Azar, bitte", flüsterte ich verzweifelt. "Darf man hier nur flüstern?", fragte die Prinzessin unverschämt in die Runde. "Schreien Sie ruhig ein bisschen rum.", antwortete Werner. Heilmann hatte sich neben mich gestellt und berührte mich am Ellenbogen. Die Prinzessin nahm Werners Antwort zum Anlass einen persischen Liebessang anzustimmen: melchancholisch, schwülstig, schwer. Edith sagte laut: "Bei soviel erotischer Verlorenheit muss ich kotzen." Die Prinzessin ließ sich davon nicht irritieren. Heilmann zog mich zwischen die Philosophie-Regale in der Buchhandlung. "Was hast du dir dabei gedacht?", zischte er mir ins Ohr. "Du hast mir sehr geholfen.", antwortete ich. "Ich wollte dir danken, bevor..." "Undine geht..." "Melusine, Heilmann, diesmal ist es eine Melusine." Heilmann nahm die Brille ab. "Sie geht..." "Der Schwanz ist ab, Heilmann. Ich muss jetzt auf den Füßen laufen." "Es wird wehtun an den Sohlen." "Das hätte ich wissen können. Es war ein Irrtum." "Eine Illusion; das ist etwas anderes." "Das stimmt. Das habe ich gelernt. Unter anderem." "Warum hast du sie mitgebracht?" "Die Prinzessin aus dem Morgenland? Weil eine Melusine ohne Fischschwanz eine andere Frau braucht." "Du glaubst, an ihrem Arm könntest du zur Vordertür hinaus." "Und die bliebe im Fenster zurück. Ja." Für einen Moment glaubte ich in Heilmanns Augen die Trauer zu sehen, derentwegen ich im Februar durch die blaue Tür gegangen war. "Das Kind..." "Kann dich von der Last nicht befreien, Heilmann. Du legst ihm zuviel auf." Zwischen den Regalen hatte Heilmann eine Pinnwand befestigt, an die er Fotos gesteckt hatte: sein Junge und er vor der blauen Tür. "Unsere Kinder: Sie leben...aber nicht uns fort, Heilmann. Vater sein heißt, überlebt zu werden. Und damit einverstanden sein." Er nickte. "Ich weiß." "Leb wohl", sagte ich und drückte seine Hand. Sie war fest und warm. Edith klapperte inzwischen immer lauter wütend mit dem Geschirr gegen den Gesang der Prinzessin. Bergmann kicherte. "Schaff sie weg.", sagte Heilmann. "Sonst geschieht hier noch ein Unglück." Ich nahm die Prinzessin am Arm, die ohne Unterlass weitersang, stieß Heilmann beiseite, der ein Philosophieregal mit sich riss und schritt im Lärm der polternden Kants, Heideggers, Foucaults, der dröhnenden Beats und des persischen Flehens, die Prinzessin am Arm, durch die Vordertür aus dem Laden. Als wir uns umdrehten, sahen wir hinter dem spiegelnden Schaufensterglas den schimmernden Körper einer Meerjungfrau liegen. Ich wusste genau, dass sie nicht dort gelegen hatte, als die Prinzessin und ich vor 40 Minuten aus dem Taxi vor Heilmanns Buchhandlung gestiegen waren.


(Dieser Text gehört in den Erzählzusammenhang von Melusine featuring Armgard, kann aber in der dort gewählten strengen Chronologie nicht untergebracht werden. Denn was hier geschieht, ereignet sich nach dem November 2009 und fällt somit aus der Erzählung heraus. Ich stelle ihn hier ein, weil er eine Figur einführt, die für Anne/Armgard und Melusine von großer Bedeutung ist: Armin Heilmann. Jedoch tritt Heilmann, wie ich glaube, erst nach November 2009 in Melusines/Annes Leben. Das Erstaunliche jedoch ist, dass Heilmanns Auftauchen dennoch für die Entwicklung des Romans entscheidend ist. Man wird also von Heilmann weiterhin lesen, jedoch nicht im Roman. Davon abgesehen: Die Suche nach Bedeutung ist zwecklos. Denn sollte es eine Absicht geben, die mit dem Auftreten Heilmanns verbunden ist, so ist es allein diese: die Bedeutungslosigkeit zu feiern, aus der Melusine entstand.)

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