Mittwoch, 10. November 2010

GESCHICHTE IM SHUFFLE-MODUS



Ein Betrag von Morel




Einige Singles. Sie kann sich an Wahlen erinnern, bei denen es nur zwei Gegenstimmen gab. Die Insassen des Reichspostlagers Augustinerkeller ersuchen die Postdirektion höflichst um eine weitere Einlieferung von Kohle. Er hatte von 1933 bis 1935 illegal in einer Gruppe von Kommunisten und Sozialdemokraten gearbeitet. Als Kind konnte er nicht begreifen, warum er nicht mehr am Hirschanger spielen durfte, im Grunde sei er doch ein deutscher Junge gewesen. Am Wahlsonntag 1932 hat sie sich mit ihrer Mutter vor das Wahllokal gestellt und „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“ gerufen. Das letzte Vierteljahr lebte er im Keller. Gerüchte waren im Umlauf, München würde sich verteidigen.

Zwei LPs. Die Tochter des Rechtsanwalts kam mit einem Kindertransport nach London. Ihre Eltern flohen nach Lateinamerika. Viele Verwandte wurden ermordet. Nach dem Krieg besuchte sie mehrfach ihre Heimatstadt. Einmal traf sie eine Klassenkameradin wieder, die sie für eine überzeugt Nationalsozialistin gehalten hatte. Diese aber bestritt das: sie habe selber immer Angst gehabt. Bei den Experimenten erhielten die Zigeuner nur noch Seewasser. Als der Vorhang aufging, sah sie eine Gruppe von Ärzten. Dann erhielt sie eine Spritze, später bestätigten die Ärzte ihr, sie sei unfruchtbar gemacht worden. Nach dem Krieg war es schwer, wieder Fuß zu fassen. Er begann damit, von Haustür zu Haustür zu gehen und Bürsten zu verkaufen.

Nur einige der Erinnerungssplitter, die dank des Audiokunstwerks Memory Loops von Michaela Melián augenblicklich im Internet zugänglich sind. Mit diesem Konzept gewann Melián den Kunstwettbewerb der Landeshauptstadt München „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenken“. Michaela Melián ist nicht nur Ton- und bildende Künstlerin, sondern auch Bassistin und Sängerin der Band F.S.K. Die Form von Memory Loops nutzt musikalische Strukturen. Auf der Internetseite memoryloops.net können 300 kurze Stücke, Tonspuren genannt, abgehört werden. In Analogie zu Musikplattformen können die Hörerinnen und Hörer sich persönliche Tracklisten zusammenstellen. Außerdem gibt es fünf längere Stücke, die in LP-Länge als Hörspiele vorliegen.

Im Unterschied zu anderen Formen der „Oral History“ verwendet Memory Loops keine Originalstimmen. Für die Realisierung wurden historische und aktuelle Aussagen von Zeitzeugen transkribiert und von professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen. Alle Texte werden von musikalischen Kompositionen begleitet, die zeitgenössisches Musikmaterial samplen. Diese Entscheidung gegen Authentizität und für ästhetische Verfremdung markiert einen notwendigen Bruch. Denn was wir erinnern, ist immer von Entscheidungen, Perspektiven und Interessen geprägt. Die ästhetische Distanzierung rückt uns das Material nicht ferner, wie in gelungener Literatur ermöglicht sie uns den Eintritt in die Geschichte und damit die Entwicklung einer eigenen Perspektive. Daher auch der skurril anmutende Vorschlag, sich Tracklists für mobile Geräte zusammenzustellen. Memory Loops eröffnet einen Hallraum von Geschichten, von denen viele nicht zur Großerzählung Drittes Reich gehören. Etwa die Geschichte des Stummfilms Nathan der Weise, der aufgrund von Drohungen von Nationalsozialisten schon Anfang der 20er nur einmal gezeigt werden konnte und bis heute nicht zur etablierten Filmgeschichte gehört. Die Ästhetisierung der Erinnerung – die musikalische Einbettung, die vielen anonymen Tonspuren, die nur nach Ortsnamen aufgesucht werden können – ist nicht frivol, sondern der bewegend gelungene und für jeden zugängliche Versuch, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten. Bei Walter Benjamin heißt es einmal, die Spur sei Erscheinung einer Nähe, so fern diese auch sein mag. Memory Loops beansprucht, uns eine ferner rückende Vergangenheit nahe zu bringen. 


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