Samstag, 25. Juni 2011

A DANCE TO THE MUSIC OF TIME lesen (1)

Ein Beitrag von MOREL

"There is no such thing as society, only individual men and women and their families."

Auch wenn sie politisch verhasst ist, wie kaum ein anderer demokratisch gewählter Politiker des 20. Jahrhunderts, die Behauptung Margaret Thatchers es gebe keine Gesellschaft, nur Männer, Frauen und ihre Familien, scheint das ästhetische Leitmotiv vieler zeitgenössischer Romane zu sein. Die mehr oder weniger geglückten Verbindungen zwischen Männern und Frauen, die Erinnerungen an Vater und Mutter, und hin und wieder ein rätselhaftes Kind, das ist der Kosmos, in dem Bestsellerlisten und Literaturbeilagen die Welt literarisch zu verstehen suchen. Selten einmal fällt der Blick auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Institutionen, mit der möglichen Ausnahme von Schule und Universität. Mit dem Studienabschluss hat das Leben seinen Höhepunkt erreicht und es beginnt ein langer Abstieg.

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Ein Landsmann der eisernen Lady, der ebenfalls den Konservativen zuneigende Anthony Powell, hat mit dem 12bändigen Romanzyklus A dance to the music of time dagegen einen der großen Gesellschaftsromane des 20. Jahrhunderts geschrieben. Es kommen nicht nur Banken, Verlage und Zeitungen vor, sondern auch ein Weltkrieg und der Untergang einer ganzen Gesellschaftsschicht. Und als Gesellschaftsroman beginnt er genau dort, wo der deutsche Bildungsroman gerne endet, am Ende der Schulzeit, in einem College, das dem berühmten Eton nachempfunden wurde. Hier lernen wir drei junge Männer kennen, Nick, den Erzähler mitsamt seinen beiden sehr unterschiedlichen Freunden Charles Stringham, melancholisch und zum Fatalismus neigend, und Peter Templer, draufgängerisch und materialistisch. Alle drei müssen bald schon darüber entscheiden, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Es stehen vor allem junge Männer im Zentrum dieses ersten Bandes, A case of upbringing (Eine Frage der Erziehung). Die Frauen scheinen einer fernen, leicht enigmatischen Sphäre zu entstammen. Die Freuden und Leiden der Liebe sind Nick im Gegensatz zu seinem Freund Templer völlig unbekannt. Powell, der diesen Roman im  Alter von beinahe 50 Jahren zu schreiben begann, spiegelt bewusst die teils muffige und groteske, teils auch bewahrende Atmosphäre der Weltfremdheit im britischen Erziehungswesen wider. Die Welt, in der diese drei, noch kaum erwachsenen Männer aufbrechen ist ihnen unbekannt. Kaum vorbereitet sind sie, auf das was sie erwartet. Weshalb es ihnen auch nur unzulänglich gelingt, Entscheidungen zu treffen.  Sie lassen sich innerhalb der ihnen vorgegebenen Bahnen dahin treiben und nutzen die sich unterwegs bietenden Möglichkeiten. In jedem Fall beginnt A dance to the music of time mit einem Abschied, die Wege trennen sich, der Erzähler, als Gegenspieler seines ja eigentlich zurückblickenden Autors mit der Gabe der Voraussicht gesegnet, vermutet für lange Zeit. Ob dem ein Aufstieg oder ein Abstieg folgt, müssen die nächsten, von mir noch nicht gelesenen, Romanteile erweisen.

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Powell wird gerne der britische Proust genannt, aber seine Zeit, zu der man tanzen kann, ist eine andere als die wiedergefundene des französischen Erinnerungskünstlers. Powell hat seinen Romanzyklus nach einem Gemälde von Nicolas Poussin genannt, das in den ersten Zeilen des Buchs beschrieben wird. Und in diesem Gemälde blicken die Tanzenden, die verschiedenen Jahreszeiten darstellend, sich nicht an, sondern voneinander weg nach außen. Anders als bei Proust wird Powell nicht die Arbeit der Erinnerung beschreiben, die disparate Ereignisse in einem Bewusstsein zusammenfügt, sondern eine Zeit, die den Menschen ihren Rhythmus vorgibt. Die Ganzheit ist seinen Romanfiguren unzugänglich. Für den Faden des Schicksals, der sie mit anderen Menschen verwebt, sind sie so blind, wie Margaret Thatcher für die Gesellschaft, die ihren Aufstieg ermöglichte. In der Gedankenwelt des deutschen Idealismus, die ja auch bei Proust fortlebt, wäre das Anlass zur Klage. Powell aber ist, wie der ihm verwandte Evelyn Waugh, ein komischer Autor. Bei ihm regiert nicht die tragische Unwiederbringlichkeit sondern die Komik der zufälligen Begegnungen. Nicht das souveräne Subjekt, sonder das tückische Objekt. Das gilt auch für seine Menschenschilderungen: sie schenken einem immer nur Aspekte der Person, einzelne Mosaiksteine, kein Gesamtbild. Dazu aber demnächst mehr.  

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