Sonntag, 18. September 2011

VERGEBLICHE WAHRHEITEN



Was Heilmann vorgezeigt wurde, war unfreiwillig komisch, Kulissen einer billigen Pornoproduktion. Er verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte er nur auf diesen lächerlichen Fettwanst hören können? Sein Sohn. Er hatte gesehen, wie sein Sohn jämmerlich starb. Bis meines Leibes Glieder einst im Tod versinken. Nein, schrie es in ihm. Er hatte das geliebte Kind in den Armen dieses herzlosen Fischweibs gesehen, das ihn verführte, entleerte, betrog – und dazu von ewiger Liebe sang, betörend schön: „Lass wohnen mich an dir, nur deinen Namen denken, auf deinen Wogen schaukeln, deine Fluten trinken, in dich allein lass meine Blicke sich versenken.“

Er kannte sie ewig, alt wie er, waren sie beide Widerstände gegen die Ordnung der Welt, die aus der Kastration seines Vaters geschaffen ward. Die Unsterblichen sollten auf immer geschieden sein von den Kämpfen der Zeit. Aufbewahrt blieben sie bloß in den Geschichten der Erzähler, die an die Geschichte nicht glaubten: Pervigilium Veneris.  Doch mächtig genug waren sie, jederzeit, das Chaos auszulösen, in dem die Menschenkörper sich gegenseitig zernichteten. Er hatte die abgetrennten Glieder gesehen, die aufgeschlitzten Bäuche, die ans Licht gezerrten Gedärme, die Lachen aus Blut und Gehirnmasse, die gehäuteten Leiber. Er kannte keine Schuld, doch fühlte er, wenn er durch die Jahrhunderte watete, tiefe Trauer und Mitleid. So, meinte er, lautete sein Auftrag, obgleich er den Auftraggeber längst vergessen hatte.

Das Drachenweib hauchte ein Feuer in seinen Nacken,  wenn sie aus den Tiefen des Meeres auftauchte, die Flügel ausgebreitet und über den Segeln seiner Schiffe dahinstrich. So hätte es bleiben können und sollen. Doch sie tauchte tiefer und sah: Wollte ihren Leib öffnen und besitzen lassen, wollüstig sich wälzen unter einem Menschenmann und dessen Söhne gebären. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen – und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen, ihn sehen und „Willoughby“ sagen. Wie hatte er über sie gelacht und geschimpft, vor Tausenden von Jahren. Und jetzt? Als Almuth den Namen auswählte, warum hatte er sich nicht erinnert? Er hob unwillkürlich den Kopf um zu lauschen. Ihre Schreie, von ganz weit her, ein Jammern kaum vernehmbar, im Stimmenwirrwarr der Halle: „Meine Füße....“ Ihre Flugfedern werden gerupft, recht geschieht ihr!

Der Dicke hatte Heilmann unterdessen zwischen die schwarzen Planen einer Dunkelkammer gezogen. Ringsum wurden Bilder auf die sanft schwingenden Plastikvorhänge projeziert. Eine Installation, dachte Heilmann, jetzt kommt er mir auch noch mit zeitgenössischer Kunst. „Bitte, mein Lieber. Beleidigen Sie nicht uns beide. Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns immer anpassen an die Zeit, wenn wir in sie eintreten. Sie doch auch.“ Er tippte auf Heilmanns Weste. „Wobei Sie natürlich immer ein wenig exzentrisch zu wirken versuchen.“ „Wir (Heilmann hasste es, wenn jemand den Pluralis majestatis benutzte.) dagegen bevorzugen es, unauffällig zu agieren und uns die Perversionen der Mode zu Nutze zu machen, wenn Sie verstehen.“ Heilmann wandte den Kopf ab. Er konnte diesem Kerl in seiner albernen Verkleidung einfach nicht länger zuhören. Die Bilder auf den schwarzen Leinwänden waren erschütternd. Sie zeigten, dass auch die Kunst seit je an der Darstellung des Menschenopfers interessiert war, so wie die Massen an seinem öffentlichen Vollzug. Höhlenmalerei, indianische Kerben auf Leder, eine Vierteilung vor den Toren der Stadt, das verkohlende Fleisch einer Schönen auf dem Scheiterhaufen einer mittelalterlichen Stadt, ein gehäuteter Körper. „Uns beschäftigt die Frage schon lange, woher das Verlangen nach dem Opfer einer Jungfrau rührt, das wir in so vielen Kulturen finden.“ Der Teufel gab sich jetzt professoral. „Wir finden die Ursache nicht, doch können wir die Wirkungen gut verwenden.“ Er lachte: „Das ist wie bei der Lichttheorie: Teilchen oder Welle. Man weiß es nicht. Aber es funktioniert.“ Heilmann hätte ihn gern verprügelt. „Kommen Sie jetzt endlich zur Sache.“, stieß er hervor. „Ich habe die Schnauze voll von Ihrem Jahrmarkt.“ Der Dicke zuckte zusammen. „Das war nicht klug, Heilmann...“ Er hob die weichen Hände und schubste seinen Gast  grob in das nächste Viereck. 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen