Sonntag, 29. Januar 2012

HORTUS CONCLUSUS. (Der Aufstand gegen die Wildnis)

unbekannter Meister um 1410, Städel Frankfurt
"In dieser Weise haben Menschen mit Gärten zu tun. Im HORTUS CONCLUSUS begegnen sie nicht nur der Natur, sondern auch der Mutter Gottes, deshalb „Mariengärtlein“. Es kann aber auch sein, dass diese Mutter Gottes zu „Diana auf der Mondsichel“ wird. Sollte aber Minerva oder Athene im gleichen Gärtchen wohnen, dann erklärt sich, warum die „Gärtner des Wortes“, die Philologen, diesen HORTUS CONCLUSUS lieben.

In dem Beruf, in dem ich arbeite, dem Herstellen von Bewegtbildern, erleben wir heute, dass sich wie in einem Zeitraffer die Entwicklung vom ursprünglichen Naturzustand zur Moderne wiederholt. Das Internet hat die Partizipation an Öffentlichkeit gewaltig (und unvergleichbar mit der Revolution, die Gutenbergs Erfindung der Druckkunst brachte) gesteigert. Hier entstand zunächst eine wüste „zweite Natur“. Umso wichtiger ist es, die gärtnerischen Inseln, die hier spontan entstehen mit dem Gedanken des Gartens überhaupt zu verbinden. So arbeiten meine Freunde und ich in der dctp (Developement Company for Television Program) an „Gärten der Information“. Der Leitsatz dazu heißt: „Erlöst die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit“. Das bedeutet: Macht aus bloßer Materie, nacktem informativem Stoff Gärten!
(...)
Erst haben unsere Vorfahren der Natur die Äcker abgerungen. Gestapelte Äcker waren dann die Städte. Ohne Frömmigkeit enden sie in einem großen Turm, an dem die Sprachverwirrung stattfindet. Zivilisationen und Gesellschaften brauchen deshalb auf ihrem Boden etwas Unbebautes, Lücken, die dem Verwertungsprinzip nicht unterworfen sind, etwas, das sich selbst genug ist, das wir nicht selbst verbrauchen: ein Opfer. Städte brauchen fromme Orte. Richard Sennett sagt: „Wir brauchen Orte, in denen man auch seiner Trauer nachgehen kann.“ Sie sind selten. Sennett fordert dies von den Architekten: heitere Orte (loci amoeni) und Orte, an denen Zeit für Trauer möglich ist. Auch Orte für Musik, die nicht nur Konzertsaal heißen. Das sind, glaube ich, die wichtigsten Seiten eines HORTUS CONCLUSUS."

 Alexander Kluge:  Gärten sind wie Brunnen, aus: Text und Kritik XI/11


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Es geht hier nicht um einen Kräutergarten und auch nicht um Luthers Apfelbäumchen, das noch gepflanzt wird, bevor die Welt untergeht. Marias Gärtchen leistet keinen Beitrag zur Frühstückstafel; Diana jagt ein Wild, dessen Fell kein Mantel wird. „Die Natur braucht uns nicht.“, sagt der Nachhaltigkeitsapostel. Der verborgene Garten aber ist der Aufstand gegen dieses Wissen. Denn was wir brauchen, ist nicht alles, was wir begehren. Wir brauchen die Früchte des Feldes, wir brauchen eine Behausung für unsere nackten Körper, wir hüllen uns gegen die Kälte in die Felle erlegter Tiere. Wir brauchen die Natur, die uns nicht braucht. Doch sehnen wir uns nach Blumen und Gedichten, Liedern und Schmucksteinen, Losung und Opfer. Das Gras kann nicht weinen und der Wind nicht lachen. Der Regentropfen wird zur Träne und der Sonnenstrahl zur Lust nur durch unsere Phantasie; der Baum zum Stuhl und das Korn zum Brot nur durch unsere Schaffenskraft.  Unsere Bestimmung liegt nicht in der Wildnis, sondern erfüllt sich in den Dachgärten der Metropolen. Von dort herab führt ein Fahrstuhl in rasender Fahrt in die schlammigen Urgründe unseres Seins. Minerva sollte niemals ohne Unterleib dargestellt werden.

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Alles hängt mit allem zusammen: Das politische Tier räkelte sich noch einmal an diesem Wochenende, müde die Läufe von sich streckend, aber mit aufgerissenem Maul, aus dem die gute, ökologische Botschaft stinkt: Unterwerfet euch den eigenen Geist mit dem Hintern! Der Teufel in Gestalt eines dänischen Filmmachers verbündete sich in meinem Kopf nur scheinbar mit der Bosheit einer englischen Dame, jedoch zeigt sie an der Verschwörung gegen den Geist, die er preist, ein bloß pragmatisches Interesse. Die Gier selbst ist nicht böse; der Teufel kann sie sich nur dienstbar machen, wie auch – umgekehrt – die selbstgenügsame Verleugnung des Begehrens. Nichts Menschliches bliebe uns fremd im Garten Eden, wo Hunger herrschte, so lange der Löwe das Lamm nicht reißen darf. 


Macht hoch die Tür, die Tor macht weit – lasset uns aus dem Paradies treten und schwören niemals zurückzuschauen. 

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