Dienstag, 3. April 2012

AN DER LANGEN LEINE (und abermals: Die Erfindung der Liebe)




Ein Beitrag von BenHuRum (keine Illustration zu:)



Die Erfindung der Liebe (aus: "Ich küsse mein Leben in Dich." Die Martenehen)


Er sah hinunter auf die Wellen, von denen sie sich an Land spülen lassen würde wie eine leblose Puppe. Heilmann beugte sich über die Reling. „Wir nähern uns dem Hafen.“ „Dem Tod, Heilmann, auch.“ „Immer so melodramatisch. Als hätte ich nicht soeben deine Asche verstreut.“ „Ich weiß von nichts.“ Er lachte. So war es. Sie folgte sich selber nach, immer wieder. Jäh traf er sie dann, wie der Pfeil das Herz. Längst war sein Sohn ergraut. Das konnte er ihr nicht verzeihen. Scharf wehte der Wind und schneidend kalt. Auch sein Gebein fühlte sich alt. Der Stoff des Mantels über seinen Schultern war abgewetzt, dünn geworden durch die Gezeiten. Sie strich ihm über den Hinterkopf. „Dass du keine Perücke mehr trägst.“ Zart lehnte sie den Kopf gegen seine Schulter. „Er ist so schön gewesen, Willoughby.“ Seine Hände krampften um das Eisen, als sie sprang. „Du wusstest doch, dass du ihn überleben musst.“, rief sie ihm über die Schulter zu. Wie gerne hätte er sie da noch einmal versenkt. Doch sie schwamm oben auf, in ihrem Element. Ganz flach wurden die Wellen, so herzlos drückte der Himmel auf sie.

Seine Augen hinter den trüben Brillengläsern wurden feucht. Heilmann konnte sich nicht länger an Deck halten. Er schloss sich in seiner Koje ein, ergab sich dem Malt, immerhin mit Stil. Er lachte. Bitter. Wäre sie früher nach Rom gekommen... Er versuchte sich zu erinnern. Hatte er sie auch dort einmal gesehen, Generationen zuvor unter dem lachsfarbenen Himmel in den Jahrtausende alten Gassen?  Er zog sein Schnupftuch hervor. Oder war er später mit Almuth dort gewesen? Fast glaubte er daran. „Die erstvermählte Frau eines treu liebenden Gatten.“ Frauen, war damals gelehrt worden, sollten nicht lesen und schreiben, man tat sehr unrecht, sie andere Dinge lernen zu lasen, als für eine Odaliske oder für eine Haussklavin geeignet sind. Aber dann (oder irgendwann danach?) hatte Almuth gesagt: „Vielleicht ist keine von uns frei von Gefühlen, die sie zu unterdrücken wünscht oder nur indirekt auszudrücken wagt.“ Und er war mit seiner ganzen Gier über sie hergefallen und hatte gezeugt.

Wer, wer nur hätte damals in jenen römischen Julitagen, dreißig Jahre vor dieser Zeit, in der prächtigen Gestalt des schönen Kindes jenes unbeschreiblich elende Skelett auf der nordseeischen Promenade zu erkennen vermocht? Heilmann weinte jetzt hemmungslos. Es frisst sich der Schmerz durch die Eingeweide meines Sohnes. Das ist nicht meine Schuld. Doch wessen dann? Welches Mädchen wäre ihm nicht in Sinn und Sinnlichkeit verfallen? Herrlich schön, charmant, klug und raffiniert war er geworden, Heilmanns Sohn: Willoughby.  (Gab ihm Almuth den verräterischen Namen?) „Er war ein Tunichtgut. Ich kam ihm gerade recht.“ Er hob angewidert den Kopf. War sie, fragte sich Heilmann, durch die Luke in die Koje geschwommen? Doch perlte kein Tropfen Wasser auf Melusines Haut. Er streckte die Hand nach ihren Locken aus. Trocken, wie ihre Füße. „Wo ist dein Schwanz?“ Sie seufzte. „Du weißt, dass ich keine Macht darüber habe.“ „Wirst du erstarren, wenn wir im Hafen anlegen?“ „Bist du  wieder betrunken, Heilmann? Du weißt, dass du zu weit gehen wirst, wenn du die Puppe folterst.“ 

Dann weinte auch sie. Heilmann legte seine Zunge an ihre Wange und fing die Tränen auf. „Süß.“ „Du lügst. Sie brennen.“ Sie roch seinen alkoholisierten Atem, als er ihr Ohr an seine Lippen zog. „Ich werde dir wehtun, bis dein Blut sich erhitzt.“ „Das ist unmöglich, Heilmann.“ „Hast du ihn nie geliebt?“ „Ich habe nur ihn geliebt. Und all die andern.“ Heilmann schlug ihr die Faust in den Bauch. Sie schrie nicht, krümmte sich nur zusammen und ließ sich vor dem Bett fallen. Er glitt neben sie. „Halt mich.“ „Das kann ich nicht. Das konnte ich nie.“

Am Morgen legte der Dampfer im Hafen an. Heilmann kleidete sich sorgfältig: Hose, Weste, Jackett, Seidenschal. Zwischen seinen Augenbrauen pulsierte es. Er fühlte sich voller Energie. Mein Sohn wird leben, wenn sie blutet, sagte er sich. Ein Katalog von Übertretungen hat ihn nicht zu retten vermocht, doch meinem Bund mit dem Teufel wird es gelingen. Er hörte sie kichern. „Es gibt keinen Teufel, Melusine. Hast du das nicht gesagt, Heilmann, immer wieder?“ Keine Zeit jetzt, dachte er, ihr Manieren beizubringen. Sie wird es zu spüren kriegen, wenn es soweit ist. Er verschloss die Kabine doppelt.

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