Montag, 21. Januar 2013

POST-FROMM (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)

"Schnuppe sind mir alle, die sich mit Verve gegen die Wirklichkeit für die Wahrheit entscheiden.", sagte sie. "Ach, Sternchen.", antwortete er. Ihm schossen Namen durch den Sinn: Pol Pot, zum Beispiel, oder Mao Zedong und Jahreszahlen: 1845, "potato famine" oder 1999 der sogenannte "Völkermord im Kosovo". Religion, Ideologie, Philosophie - Theorien, denen die Welt nicht genügte, an denen sie gar regelmäßig und schmerzlich versagte, wofür sie dann bestraft gehörte. Da die Welt selbst sich den Sanktionen jedoch notwendig entzog, mussten weltliche Menschen die Strafen der Gläubigen und Wissenden auf sich nehmen: Bauern, Bäckerinnen, Brückenbauer, Krankenpfleger, Ärztinnen, Büroangestellte, Bauern, Händlerinnen, Mütter und Väter, Onkel und Tanten, Großeltern und Kinder. Alle, die etwas zu tun hatten und schon mal damit anfingen, alle, die bloß lasen, um sich zu unterhalten, alle, die eine andere als die Wahrheit glaubten und verkündeten, alle, die beim Jenseits an Wolfis Kneipe dachten - und immer wieder: die meisten. 

"Es gibt", sagte er, "Idealisten und Materialisten". Sie lächelte. Jetzt hält er mir einen Vortrag, dachte sie. Aber er schwieg. Kommt jetzt wieder der Satz, dachte sie: "Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich." Er schwieg. Oder: "Nur Menschen können nachhaltigen Ekel erzeugen." Oder: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." (Um Himmels willen!) Sie nahm noch ein Stück vom Schokoladenkuchen. "Der ist dir gut gelungen, diesmal.", sagte sie. Er lächelte. Und schwieg. "Nicht zu krümelig. Nicht zu trocken." Sie zerlegte ihr Stück mit der Gabel in kleine Bissen. Ich könnte, dachte sie, den halben Kuchen aufessen. Ohne Weiteres. Sie hatte sich aber entschlossen, sich den herrschenden Schönheitsidealen zu unterwerfen und die Fettschicht auf ihren Hüften auf ein MInimum zu beschränken. "Ganz ohne Idealismus?" Sie warf das so hin. Und schob sich schnell ein Schokostückchen in den Mund. Ellipsen. Manchmal muss man auf Ellipsen ausweichen. Aus Selbsterhaltungsgründen. Als Ausweichmanöver. "Gibt´s", sagte er. Sie fing sein Lächeln auf. (Alles wird gut!). "Ich mag ihn ja am liebsten mit Guss.", sagte sie. "Auch wenn ich dann höchstens zwei..." Er nahm den Kuchenteller vom Tisch und trug ihn in die Küche. Sie schaute ihm bedauernd hinterher. Er meinte es gut, das durfte sie nie vergessen. 

Als er zurückkam, schlang sie die Zipfel ihres bunten Schals durch die Schlinge, die sie sich um den Hals gezogen hatte. "Eisig draußen.", sagte sie. "Ich mach mich dann mal auf den Weg. Bevor es zu dunkel wird." "Haste dein Licht immer noch nicht repariert?" Sie zuckte die Achseln. "Echt. Wer so viel wie du mit dem Fahrrad unterwegs ist..." "Machst du jetzt einen auf Mama?" Er grinste. "Es kommt aufs Sein an, meine Liebe, nicht aufs Haben." Sie war irritiert. Dann ging ihr ein Licht auf: "Erich Fromm?" Er lachte. "Erinnerst du dich?" "An Larry?" Sie zog eine Schnute, äffte dessen apodiktische Sprechweise nach: "Fromm? Instant-Philosophie für verschreckte Kleinbürger." Er lachte. "An den habe ich lange nicht mehr gedacht." "Ich hab den gern gelesen. Fromm, meine ich. Mit siebzehn." Sie standen an der Tür. "Bis denn." "Ich ruf dich morgen an."

Sie sprang die Stufen hinunter. Es war kalt. Es regnete heftig. Sie zog die gelbe Regenjacke enger um sich und die Strickmütze tiefer in die Stirn. Sie musste gegen den Wind anstrampeln, als sie über die Brücke fuhr. Die fetten, eisigen Tropfen schlugen ihr ins Gesicht. Man braucht Visionen, dachte sie. Hatte Fromm nicht so was geschrieben? Nicht wörtlich, wahrscheinlich. Wer Visionen hat, gehört in die Anstalt. Daran erinnerte sie sich. Und an den, der das gesagt hatte. Der lebte immer noch, oder? Sie schüttelte die Mütze aus, als sie bei sich im Flur stand. Sie hatte die Heizung im Wohnraum angelassen. (Verschwendung? Glück!) Sie seufzte erleichtert. Jetzt einen Tee. Sie setzte den Wasserkocher auf. Während das Wasser begann zu brodeln, suchte sie die Regalmeter nach dem schmalen Band von Fromm ab, den sie besessen hatte, aber sie fand ihn nicht. Als sie das Wasser über die Teebeutel goss, erinnerte sie sich: Sie hatte den entsorgt, beim vorletzten Umzug. 

2 Kommentare:

  1. Sag mal, kenne ich die beiden? LG S.Anne

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    1. Nicht dass ich wüsste. Das sind nicht d a s Brüderlein und Schwesterlein ;-). Hier ist der Bruder der Ältere, wie Du unschwer daran erkennen kannst, dass er seine Schwester "Sternchen" nennt. Jedenfalls habe ich die beiden so vor dem inneren Auge. CU

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