Mittwoch, 15. Mai 2013

"Blut musste fließen." (EIN MUTTER-TAG)






Blut musste fließen. Heilmann wusste, dass es notwendig war. Woher wusste er das? Hatte der Teufel es ihm gesagt, damals am Tresen in Berlin oder in dem Café in Rom? All die Jahre, die flüchtigen Begegnungen, die Andeutungen, das Raunen der heiligen Texte, die Bedeutungsschwere, mit denen sie aufgesagt wurden, von diesen und jenen, meist waren es Männer gewesen, traurige Männer, unbeweibt, gedrückt, unerkannt, verachtet oder lächerliche Poser, die mit ihren Eroberungen angaben, sich in den Schritt fassten und von „guten Ficks“ prallten. Er hatte das ganze Konzept so über, dass ihm die Galle hochkam. Die Opfer, die schönen Leichen, das pralle, blaße Gewebe, die grünliche Entsagung, die holden Locken auf die spitzen Brüste drapiert, die düsteren Hintergründe, das schwarze Loch. Woher wir kommen, wohin wir gehen. Es war alles Unsinn. Er sehnte sich nur nach der Endlichkeit. Deshalb stand er hier. Deshalb war er bereit, den Körper der Frau aufzuschlitzen, die er geliebt und mit der er den Sohn gezeugt hatte. Aber wie können Flüsse und Berge und das Meer unwirklich sein, hatte sie ihn gefragt. Wie ein Kind. Das alte Kind aber, das sein Sohn geworden war..., zerstört von der Krankheit, die seine Eingeweide zerfrass. Heilmann schaute an sich hinab: Ich bin dein Leib, dachte er. Er war der, der durch die Zeiten wandelte, leichtfüßig, sorglos, charmant. Der die Wasserfrau aus dem Fluss barg und das Drachenweib auffing, der ihren feurigen Atem kühlte und ihre blutigen Füße verband, der ihre Tränen trocknete, wenn sie ihre Brut verlor, wenn sie verraten wurde und aus dem Nest geworfen, wie es immer geschah und wieder und wieder, weil sie liebte und gebar. Nie durfte sie einem ihrer Söhne wieder begegnen in anderen Zeiten. Das war sein Auftrag, den erfüllte er gut. Bis Almuth kam. Almuth, die einmal ganz anders geheißen hatte. (Edith.) Deren Augen grün waren oder blau oder braun.

Almuth war nicht Melusine. Almuth war die, die des Teufels war. Die Melusine war nicht gut, nicht böse; sie plätscherte im Wasser wie ein Fisch, der keine Erinnerung hat. Warum sollte sie traurig sein? Doch er hatte sie gesehen, hier und da, in Moskau, Unter den Linden, am stillen See in der Mark, im Zug nach Zürich, in den Tiefen des Indischen Ozeans, vor der Barrier von London. Sie wusste nichts und ahnte alles. Ihr Kommen und Gehen, seine Hand auf ihrem Arm: „Kommen Sie, Madame. Hier entlang.“ Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Er hatte Almuth geliebt. Er musste Almuth lieben. Alte weiße Hexe, Muttertier, hatte er sie genannt. Aber Melusine war eine Frau, die Mutter an seiner Seite durch alle Zeiten. „Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“ Da war sie zusammengezuckt.

„Du musst es tun, Heilmann.“ Er schaute auf. Sie war jetzt ganz aufmerksam. Der Teufel war zur Statue erstarrt. Die Puppen stierten. Die Augen der Melusine waren weit aufgerissen. Ihr Mund stand offen. Wie dumm sie aussah, wenn sie auf Puppe machte. Er wollte lachen, wollte sie auslachen. Da bemerkte er, dass seine Glieder steif geworden waren. Er konnte den Kopf nicht bewegen, die Beine nicht, nicht den linken Arm. Nur die Hand um das Messer war warm. „Heilmann.“ Sie sprach mit offenen Mund, ohne die Lippen zu bewegen. Als komme die Stimme von einem Tonband aus ihrem Körper. „Schneid ihr die Augen auf.“ Heilmann versuchte seine Lider zu schließen, doch es gelang ihm nicht. Er schaute hinunter auf die Puppe, die aussah wie Almuth. Das Blut pulsierte an deren Schläfen. Das war kein Plastik mehr, das war der lebendige Leib, den er begehrt hatte. „Dein Sohn wird leben, wenn du die Mutter schlachtest.“ Das Weib war grausam, weil das Blut in seinen Adern grün war wie das Meer, sein Element. „Du lügst“, wollte er schreien, doch seine Zunge ließ sich nicht bewegen. Jetzt hätte er sich gern an den Teufel gewandt, doch der war zu einer Schaufensterpuppe für Übergrößen erkaltet. Der Teufel schwitzt nicht. Hatte er das nicht gefordert? Einen coolen Teufel? „Du kriegst immer, was du willst, Heilmann, nicht wahr? Nur ist es nie, wie du willst.“ Sie kicherte. Er fühlte den Hass wie eine warme Welle in sich aufsteigen. Er schloss die Finger fester um den stählernen Griff des Messers. Er konnte jetzt wieder seinen ganzen Körper spüren, von den Zehen bis zu den Fingerspitzen. Seine Kopfhaut juckte. Es war heiß. Noch einmal schaute er zur Tribüne hin. Die Melusine war verschwunden. Nur der Eimer, in dem sie mit ihrer Flosse geplätschert hatte, stand noch da.

Der Teufel räusperte sich. Heilmann hob den rechten Arm. „Sie sollten nicht wahllos zustechen. Es geht um das Sehen. Sie darf ihren Sohn niemals sehen. Den Unsterblichen.“ Der Teufel kicherte wie die Melusine. „Schneiden Sie ihr die Goldaugen heraus. Das genügt.“ Almuth unter ihm auf der Bahre räkelte sich. Sie schlug die Augen auf. Das Mädchen mit den Goldaugen. Heilmann zuckte. Jetzt. Er senkte das Messer und stieß zwischen Höhle und Jochbein. Almuth schrie. Ihre Hände fuhren in die Höhe. Sie führte seinen Arm, lenkte die Messerspitze unter den Augapfel und hob ihn an. Ein Ruck und er kullerte über zu Boden. Der Schrei verstummte. Der Teufel presste einen Knebel auf den Mund der wehrlosen Frau. „Das andere. Schnell.“ Heilmann schnitt. Er war ungeschickt. Aber ihm wurde geholfen. Die Augen gingen ihr über. Er schloss die seinen. Goldenen Augäpfel purzelten über den grauen Beton.

Die vergoldete Kreatur zapppelt – und wirbelt –
Taumelt rasend zwischen Ästen hin und her –
Schlitzt ihre mächtigen Adern auf –
Und stürzt hinunter ins Meer. -

Heilmann hörte sie singen unter der Wasseroberfläche, wie er sie immer schon hatte singen hören. Er hatte ihr nur niemals zugehört. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er in das augenlose Puppengesicht. Leere Höhlen. Über den Boden rollten die vergoldeten Plastikaugen. Er kickte sie mit dem Fuß zur Seite. Der Teufel klatschte einen schäbigen Beifall. „Na also.“ Er klopfte Heilmann auf die Schultern. „Kommen Sie. Das hat Jahrhunderte gedauert. Aber schließlich... Ich bin zufrieden.“ Er hörte sich an wie ein Therapeut, der mit einem sehr schwierigen Patienten verhandelte, winzige Veränderungen als gigantische Fortschritte anpreisend.

Du kannst mit mir anstellen, was du willst
Immer überlebe ich dich.

Die Puppenversammlung löste sich auf. Schöne, nackte Frauen stiegen die Tribünen hinunter, in angeregte Gespräche vertieft. Auf Heilmanns hellem Anzug waren zwischen dem ersten und dem zweiten Knopf zwei winzige Bluttropfen hängengeblieben. Kaum zu sehen. „Das wird man nicht bemerken.“, flüsterte der Teufel wie ein Verschwörer. Heilmann ekelte sich. „Mein Sohn?“ „Sie werden sehen.“ Der Teufel schien sich zu amüsieren. „Es wird anders sein, als sie erwarten. Aber ich halte meine Versprechen. Doch nun kommen Sie. Sie müssen hier weg, bevor...“ Der Teufel unterbrach sich. Das ging Heilmann nichts an. „Die Mutter wartet auf sie.“ „Almuth.“  Der Teufel schüttelte den Kopf. „Sie haben sie unter Deck eingeschlossen. Haben Sie das schon vergessen?“ Sie schritten eilig nebeneinander durch die Hallen. Im Hof wartete ein Taxi auf Heilmann. Der Teufel schob ihn geradezu hinein. „Zum Hafen.“, rief er dem Taxifahrer zu und winkte. Heilmann lehnte sich im Fond zurück. Er drehte sich nicht um, als sich das Eingangstor hinter dem Wagen schloss. Er würde den Teufel nicht wiedersehen. Plötzlich kamen ihm die Tränen.

Die Mutter derweil unter den Wellen: Jeder Riss der Erde tut ihr weh. 

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