Freitag, 30. Mai 2014

NACH-BILD. Denn die Sehnsucht nach Authentizität ist nicht tot zu kriegen...

(Gestern Abend, als ich auf das Interview von Jos Diegel auf FAUST KULTUR verlinkte, das gerade frei geschaltet worden war, fühlte ich mich zu müde, um das feine Zitat, das ich als Überschrift aus dem Interview herausgegriffen hatte, zu kommentieren.)

KUNST/FIGUREN

Die Sehnsucht nach Authentizität ist nicht tot zu kriegen. Jede Inszenierung hat es mit ihr zu tun. Am meisten selbstverständlich: jede Selbst-Inszenierung. Wir leben bereits jenseits des Zeitalters der universalen Ästhetisierung der Lebenswelt, das vor ungefähr 300 Jahren anbrach. (Nicht alle merken es.) Die Welt, die wir zu kennen glauben, erklären wir uns anhand von Abbildern. So auch uns selbst. Freud hatte fast in allem Unrecht, aber er lieferte die Blaupausen, wie wir uns ´die anderen´ aus Metaphern erschaffen können. Erfahrungsverlust, von Pädagogen maulend beklagt, ist kein neues Phänomen der Smarthpone-Ära. Du bist immer nur der, den ich in dir sehe. Du bist das Bild, das ich mir mache. Ich bin das Bild, das ich dir vorspiele. (Für mich. Für dich ist es grad anders rum.)

ZEIG MIR DEIN GESICHT!

kreischte es schrill aus dem BIG BROTHER-Container, als wir vor solchen Stimmen noch erschrocken zusammen zuckten. Kontemplation vor dem Bild kann auch noch gespielt werden, freilich. Ist allerdings durchschaut: als eine Oberfläche von vielen. "Alles Geschmackssache!" Jede/r kann für 10 Minuten (oder waren es 5?) ein Künstler/eine Künstlerin sein. ("Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.") 

Alles kann schön sein, vor allem die Hässlichkeit. Im Bild. Als Bild. Diesen Abscheu hier teilen wir kaum mehr: "Ich erinnerte mich, wie mich beim Lesen, beim Betrachten der Bilder zuweilen die Empfindung von Ausweglosigkeit überkam, das ganze Misstrauen gegen eine Welt, die Mühsal und Ekel durch Formen und Farben bezwang." (Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands). Wir sind Oberflächenpolierer, keine Tiefenschürfer. Denn wir wissen schon: Da unten ist nichts. Außer: Noch mehr Oberflächen. 

Es ist lächerlich geworden, sich hinter Masken zu verstecken. Wir haben in die Innenseite der Maske gesehen, alle. "Spiel Dich selbst, aber mit Schmackes!" Wer jetzt noch jemand anderen spielt, hat nichts verstanden und verharrt starrsinnig im 20. Jahrhundert: "Das Verhältnis des Maskierten zu den Kritikern ist, wie gesagt, seit Jahrtausenden untersucht worden. Es ist das Verhältnis des Akteurs zum Publikum, der Praxis zur Theorie, der Politik zur Kontemplation, kurz das historische Verhältnis." (Vilém Flusser). Passé. Das Programm ist sichtbar. Die Inszenierung durchschaut. Die Innenseite der Maske. Wer vorspielen will, ohne Publikum zum sein, wer Publikum sein will, ohne zu mitzuspielen, hat heutzutage Pech gehabt. Runter von der Bank, mitgetanzt! ("Da bleiben manche halt daheim und trauen sich nicht mehr raus.") Betrug und Verrat waren zwei Seiten der Medaille. Gilt nicht mehr. Wo nicht mehr betrogen werden kann, kann auch nichts verraten werden. Das Private ist politisch? Das Politische ist privat. 

"Das Wesen der Geste (des Maskenwendens, M.B.) ist das Überschreiten des Theaters, also der Bühne, des Aktes, der Handlung, und es ist eine der ganz wenigen Gesten, in der sich die untheatralische, nachhistorische Daseinsform äußert."

***


In der Sonderausgabe von PUNK PYGMALION, deren Cover Jos Diegel gestaltet hat, sind dem Roman zwei Texte vorangestellt, einer von Jos Diegel (ohne Titel) und einer von mir über Jos, der den Titel trägt "Jos Diegel ist (k)eine Kunstfigur". Jos´  Text endet so:

"Für dich und deine Autorin sind Bücher nur dickere Briefe an Freunde, für dich sind Bücher Briefe an andere Bücher und deren ideale Leser. Bei mir ist das auch nicht anders. Aber du warst doch diejenige, die das alles inszeniert hat. Von Anfang an. Du hast dieses Bild gesehen. Hört auf die Aufstände von einst zu reproduzieren. Das Bild ist gut, weil es die Gewalt offenbart, die hier geschieht. Auch so ein Satz von dir."

Die Autorin gehört zu mir. Nicht: die Autorin bin ich. Was ich gesagt habe, habe ich nicht gewollt, aber ernst gemeint.  ("Haut das in den Stein.") Der Text über Jos Diegel beginnt mit: Selbstreflexion.

"Jeder beschäftigt sich mit sich selbst und die anderen sind das Publikum. Weiß er das? In Echt und Farbe. Wer endlich mal identisch und authentisch werden will, muss sich in eine Kunstfigur verwandeln. Und: Ernst nehmen."

Wir sind alle Rosenthal-Effekte. Wo eine Zukunft ist, wird Sünde sein.


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