Montag, 1. September 2014

HIMMELREICHS UND WIRKLICHKEIT (aus: Sternchen und Schnuppe. Familienroman der Zukunft. Entwurf)

"Die Schauplätze unserer Geschichte wirken, als hätte sie ein Location-Scout für eine Vorabendserie des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ausgesucht: Küchen, Parks, AutosFlughafenhallen, Hotel-Bars. Fehlt nur noch ein Krankenhaus-Flur."
Schnuppe lachte, ein wenig gequält.
"Es ist passend. Zeigt, wie sehr wir uns bemühen, nicht originell zu sein. Fast schon verzweifelt."
Sternchen griff nach seiner Hand, löste sie vom Glas, strich sie sanft aus auf dem Teakholz des Tresens. Er wollte sich nicht weich machen lassen, nicht einmal von Sternchen, aber er fühlte sich zu schwach für Widerstand. Die Begegnung mit dieser Frau hatte ihm seine Abhängigkeit von Sternchen vor Augen geführt. Wie sollte er je einem anderen Menschen erklären, was ihm an seiner Mutter, vielmehr an der Frau, die in der Geburtsurkunde als seine Mutter eingetragen war, aber ihn nicht geboren hatte, fehlte? Es gab ja genug andere Adoptivkinder, die damit besser klar kamen. Sternchen und er kannten viele. Hatten sie bewusst gesucht und kennengelernt; damals ganz am Anfang ihres Exils, in Köln, waren sie einer Selbsthilfegruppe für Adoptivkinder beigetreten. 

Das war auch so ein Fehler gewesen. Nicht nur, aber auch, dass sie immer zusammen aufgetreten waren. Keines von ihnen hatte je außerberuflich versucht, sich alleine zu stellen. Wie lächerlich, dass sie ihren Liebeleien den Anstrich der Partnersuche gegeben hatten. Und die getrennten Wohnungen. Wem wollten sie damit etwas vormachen? Marie etwa, die sie seit Jahren nicht gesehen und nicht erwartet hatten? Oder Adam, der sie nicht suchte, sondern floh? Denjenigen, denen sie Gefühle vorgaukelten, die sie nicht einmal für einander hatten? Sich selbst und einander? 

Er wäre am liebsten raus gerannt, raus aus der Bar, dem Hotel, der Stadt, weg, weg, von Marie Himmelreich und Stella Himmelreich und am meisten und weitesten weg von sich selbst: Samuel Himmelreich. Ein Himmel voller Arschlöcher. Er hasste diese Wortspielereien mit ihrem Nachnamen, zu denen sich selbst flüchtige Bekannte bemüßigt fühlten und die auch sein eigenes Gehirn widerwillig produzierte. Ein Familienname, den Adam und Marie ausgesucht hatten. Oder jemand anderes für sie. In wessen Namen hatten Adam und Marie gehandelt? Schnuppe entzog Sternchen seine Hand und krampfte sie um das Glas. 

"Lass mich saufen."
Sternchen zog einen Flunsch. Aber nur ein bisschen. 
"Ich sehe das nicht als Zeichen unserer Verzweiflung. Wir machen das Beste draus. Das Beste, das wir sein können, ist unauffällig."
Schnuppe stöhnte: "Das Beste ist, den Klischees zu entsprechen, die man uns beigebracht hat, Schwesterchen. Wir könnten uns alles aussuchen."
"Der Griff nach den Sternen."
"Und sieh, was wir gewählt haben: Geschwisterlichkeit, Küchenlieben, Yoga, Tanzen."
"Und? Warum sagst du das in so abwertendem Ton? Wir könnten auch Polygamisten sein, Rennfahrer, Immobilienmaklerinnen oder Drogenhändler."
"Physiknobelpreisträgerinnen, Superstars, Philosophinnen."
"Das ist Unsinn. Warum sollten wir mehr oder weniger die Wahl haben als alle anderen?"
"Weil wir uns nicht kennen. Weil sie uns erfunden und zusammengefügt haben: Adam und Marie."
"Das glaube ich nicht. Sie haben uns in Sicherheit gebracht, denke ich. Vor denen."

Schnuppe zögerte. Als er herunter gekommen war mit dem Fahrstuhl, hatte er sich noch selbst versprochen, Sternchen nichts zu sagen. Wozu sie mit diesem neuen sinnlosen Rätsel konfrontieren? 
"Sie sagte etwas, als ich sie in ihr Zimmer hoch brachte."
Sternchen legte ihm den Arm um die Schultern.
"Warum hat sie diese Macht über dich? Warum traust du ihr nicht, aber saugst doch jedes Wort auf, das sie spricht?"
"Weil sie uns geschaffen hat. Und weiß wozu."
Sternchen runzelte skeptisch die Stirn.
"Das wage ich zu bezweifeln."
"Dann kennt uns niemand."
Sternchen lächelte ihn an.
"Und damit wären wir nicht allein, weißt du? Die meisten Menschen glauben das von sich. Mindestens seit der Postmoderne oder so. Sie kennen sich selbst nicht und sind stolz darauf."
Schnuppe nahm einen kräftigen Schluck aus einem Glas.
"Was ich hasse ist die Art, wie du ´Weißt du´ sagst. Obwohl du genauso wenig Ahnung hast wie ich."
"Ich bin eben genauso stolz auf mein Halb- und Nichtwissen wie andere fiktive Charaktere auf ihre Nicht-Identität.", lachte Sternchen.
Schnuppe stöhnte. "Du nervst. Ich lese keine Romane und genau darum. Ich fühle mich schon unwirklich genug, ohne durch dich oder sonst wen in diese Wirklichkeitsverleugnungsschleifen gezogen zu werden."
"Schönes Wort. Aber zurück auf Anfang: Was hat sie gesagt?"
"Ich wusste, dass du fragen würdest. Obwohl du behauptest, dass du mit ihr fertig bist."
" Es beschäftigt dich. Und deshalb mich."
"Sie hat gesagt: ´In Wirklichkeit heiße ich Lilith.´."
Sternchen verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke.
Lilith. Ausgerechnet. Lilith. Sie hatte es drauf, die Marie. Himmelreich. Assoziationen. Sie hatten immer mit Assoziationen und Mythen gespielt. Selbst die NASA benutzte gerne mythologische Namen für ihre Sonden. Was konnte sie als Lilith auskundschaften, was ihr als Marie verborgen blieb? Oder was bildete sie sich ein, herauskriegen zu können?
Es war, als könne Schnuppe ihre Gedanken lesen.
"Was ist, wenn sie wirklich so heißt?"
Nach dieser Vorlage konnte es Sternchen einfach nicht lassen, ihn noch einmal hochzunehmen:
"Schnuppe, mein Armer, hast du es immer noch nicht kapiert: Es gibt keine Wirklichkeit, nur Bewusstseinszustände."

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Was bisher geschah: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft

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