Montag, 2. November 2015

FRAUEN-FREUNDSCHAFT. "Die Frau mit der Kamera". Ein Film über Abisag Tüllmann von Claudia von Alemann

http://www.abisag-tuellmann-stiftung.de

Am Anfang bewegt sich die Kamera tonlos durch die verwaiste Wohnung der Abisag Tüllmann. Wenige Tage zuvor war sie gestorben. Die Kamerabilder fangen ein, dass diese Fotografin aus Passion bis fast ganz zuletzt weiter gearbeitet hat. Die Wohnung in der Oberlindau, Frankfurt am Main, in der Tüllmann so viele Jahre gewohnt hat, ist Arbeits- und Lebensraum zugleich: überall die flachen, orangenen Agfa-Schachteln, Dia- und Bücherstapel, vertrocknete Blumen, Teekanne und Tassen, Aschenbecher, Dunkelkammer und Küche.

Claudia von Alemann, die über Jahrzehnte mit Abisag Tüllmann eng befreundet war, hat einen sehr persönlichen Film über die verstorbene Freundin gemacht, die eine der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts war. Über 500 von Tüllmanns Fotografien (die meisten schwarz-weiß) sind in diesem Film zu sehen: eindrucksvolle Dokumente einer außerordentlichen Begabung zur genauen und einfühlsamen Beobachtung, zur Fähigkeit den entscheidenden Moment zu erhaschen, den Augen-Blick der nicht nur offenbart, wie im Interview in Alemanns Film eine andere Freundin Tüllmanns sagt, „was ist, sondern auch das was wird“. Tüllmanns Fotografien, körnig oft und zwischen Schärfe und Unschärfe changierend, erzählen Geschichte und Geschichten von Menschen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Umbruch, im Alltag, auf der Suche, unter Druck, umhüllt von Nebel und Dampf, umstellt von der schnell hingestellten Nachkriegsarchitektur, jubelnd, lachend, nachdenklich, weinend, tobend, demonstrierend, sich verkriechend. Sie findet einen Blick, der das Offensichtliche kombiniert mit dem Eigentümlichen, Momentanen, Unerwarteten, mit den Brüchen und Unwägbarkeiten. 

Dabei bleibt Abisag Tüllmann als Fotografin, wie Barbara Klemm, die berühmte Kollegin und Freundin, im Film beschreibt, immer im Hintergrund, ob sie Theaterprojekte, Studentenversammlungen, Obdachlose oder algerische Bauern fotografiert. Sie inszeniert kein Geschehen, baut nichts auf oder um, stellt nicht ihre eigenen Ideen (weder die ästhetischen noch die politischen) ins Zentrum, sondern die Aufmerksamkeit für den Moment, der das noch nicht Gewesene, noch nicht Gesagte, noch nicht Gedachte enthält. Das ist durchaus auch ein ethisches Programm, so wird mir beim Zusehen deutlich, eine Vor-Sicht gegenüber den Wahransprüchen der Reden und Texte, die die Wirklichkeit nur zu oft auf eine, auf die richtige Sichtweise festschreiben wollen. Gegen das analytische Vorgehen der Wortproduzenten setzt diese Form der Dokumentarfotografie auf das subtile Zum-Vorschein-bringen des Unwägbaren und Unaussprechlichen aus dem Schwarz der Dunkelkammer. In der Ecke des Raumes, am Rande der Demonstration, im Frühnebel eines Arbeitstages entwickeln sich interessantere Szenen jenseits der großen Gesten und symbolischen Inszenierungen.

Claudia von Alemanns Film erhielt keine Zuschüsse von Fernsehanstalten, war vielmehr angewiesen auf Filmfördermittel des Landes NRW und Hessens sowie der Abisag Tüllmann-Stiftung. Die bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die im Besitz des fotografischen Nachlasses von Abisag Tüllmann ist, gestattete die Verwendung der Fotos ohne Honorar. Der – vielleicht unfreiwillige ? – Verzicht auf Fernsehgelder erweist sich für diesen Film als ein Glück. So konnte von Alemann die Fotos zeigen, ohne  Zoom oder Schwenks zu verwenden (wie sie von einer Fernsehredaktion zweifellos eingefordert worden wären), ohne also zwanghaft die Stille und den Stillstand, den die Fotografien erzeugen, durch filmische Mittel in Bewegung zu versetzen. Der Zuschauerin werden schlicht diese großartigen Fotos gezeigt, statt durch den Blick der Regisseurin Motive hervorzuheben oder zum Verschwinden zu bringen. Alemann hat den Mut, an dieser Stelle auf die Mittel des Films zu verzichten, die sie an anderer Stelle desto gelungener einzusetzen weiß: bei der Montage der Fotos mit Filmszenen aus zeitgenössischen Filmen befreundeter Regisseure wie Carola Benninghausen, Alexander Kluge oder Ulrich Schamoni, bei den Interviews mit Freundinnen und Freunden Abisag Tüllmanns, den langsamen und geduldigen Kamerafahrten durch Räume, Orte und Landschaften auf den Spuren der verstorbenen Freundin.

Die Geschichte Abisag Tüllmanns beginnt 1935 in Nazi-Deutschland. Ihre Mutter kann den geforderten Arier-Nachweis nicht erbringen, gilt als Halbjüdin. Der Vater verliert sein Unternehmen, muss als Zwangsarbeiter arbeiten. Die Familie verliert sich; der schwer kranke Vater kann Mutter und Tochter nach Kriegsende nicht mehr finden und stirbt, ohne sie wiederzusehen. Alemann spürt dieser Kindheitsgeschichte nach, ohne sie aufdecken zu können. Thüringsche Fachwerkidyllen der Gegenwart zeigen nicht, was sich 1945 hier abgespielt haben könnte. Abisag Tüllmann studierte einige Semester Innenarchitektur, entdeckte dann ihre Leidenschaft für die Fotografie, zog nach Frankfurt am Main, machte ein Volontariat bei einem Fotografen und begann dann für die FAZ, die Frankfurter Rundschau, später auch den SPIEGEL oder den STERN zu arbeiten. Sie lernte Claus Peymann kennen, wurde zu einer der bedeutendsten Theaterfotografinnen ihrer Zeit. Sie interessierte sich über viele Jahre für Algerien und Israel, wo sie auch bei zahlreichen Besuchen Fotografien anfertigte. Einen wichtigen Bildband erstellte sie über eine Reise nach Namibia, das ehemalige Rhodesien. Seit 1961 selbstständig tätig war Tüllmann Begleiterin der 68er Studentenbewegung.

Alemanns Film zeigt die Karriere Tüllmanns, spiegelt den tiefen Eindruck wieder, den diese ganz offenbar auch zur Freundschaft außerordentlich begabte Frau bei denen hinterließ, mit denen sie in Kontakt kam. In jenen 60er und 7oer Jahren arbeiteten und lebten eine Reihe bedeutender Fotografinnen, Filmemacherinnen, Schauspielerinnen, Autorinnen und Philosophinnen gleichzeitig in Frankfurt am Main, diskutierten miteinander, unterstützten einander und gründeten in diesem Umfeld beispielsweise den Frankfurter Weiberrat. Es wird auch hier wieder einmal deutlich, dass eine Frau, um ihr Begehren verwirklichen zu können, auf die Unterstützung und Autorität anderer Frauen angewiesen ist. Müllmanns älteste Freundin liest aus einem Brief vor, den die junge Abisag ihr schrieb, in dem sie darüber reflektiert, dass ein Leben als Ehefrau und Mutter ihrer Entwickung als Fotografin entgegenstehen würde.

Claudia von Alemanns Hommage an ihre Freundin Abisag Tüllmann ist ein wunderbarer Film über eine großartige Fotografin, aber auch ein großer Film über die Freundschaft, gerade auch die Freundschaft zwischen Frauen.

Am 8. November wird der Film noch einmal von der Kinothek Asta Nielsen im Kino mal sehn in Frankfurt gezeigt.

Er kann dort auch als DVD erworben werden.


Links:
Kino mal sehn, Frankfurt a.M:


Bildband:

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