AUGEN-BLICKE





Über den AUGEN-BLICK

I. Im Auge des Jägers


1. „Schau mir in die Augen, Kleines.“ oder  „Ich schau dir in die Augen, Kleines.“

(Klingt das wie eine Drohung?)

Denken Sie an den Augenaufschlag, den Frauen einsetzen, um sich in ein Mädchen zu verwandeln. Von unten her schaut sie ihn rührend an, so dass der Liebende sich vom aggressiven Jäger in den Beschützer verwandeln kann. Selbstverschuldete Unmündigkeit, hätte der Alte aus Königsberg das – nicht zu Unrecht – genannt. Doch andererseits: „Pure Vernunft darf niemals siegen.“

In unserer Kultur hängt viel am Augen-Blick; nicht nur, aber auch und vor allem im Geschlechter – und Liebesverhältnis. „Schau mir in die Augen, Kleines“ ist  keine korrekte Übersetzung der Zeile, mit der Bogart sich Bergmann in „Casablanca“ verbindet, jedoch eine, die deutsche Zuschauerinnen Jahrzehnte lang von der Tiefe dieser Liebe überzeugte. Im Original sagte er: „Here´s looking at you, kid.“ Da haben Sie es: Die Verwandlung der Frau in ein Kind. In der englischen Version ist es ausdrücklich das geschlechtsneutrale Kind und das männliche Subjekt des Satzes verschwindet ganz (in einem Trinkspruch). Der Kontrast zwischen den Kamerabildern, die zwei erwachsene Menschen zeigen, deren Augen einander verzweifelt suchen und festhalten wollen, und den Worten wird schärfer. Der Film nutzt einen bekannten Effekt: die Steigerung des Begehrens durch das Anstauen der Energien unter der Oberfläche. In der neueren deutschen Synchronfassung sagt Bogart jedoch: „Ich seh dir in die Augen, Kleines.“ Das scheint näher dran an der Originalfassung. Aber tatsächlich hebt es weder die Asymmetrie zwischen Kindfrau und  befehlendem Mann hervor, noch die geforderte Schau-Passivität beider durch das Wort. Ihr wird befohlen, ihn anzuschauen oder sich von ihm anschauen zu lassen. Aber keines von beiden soll unmittelbar schauen (was sie im Kamera-Bild tun). Eigentlich heißt das: Schau mich an, aber schau mich nicht an. Stell dir vor, dass du mich anschaust.

In dieser berühmt gewordenen Zeile ist die Steigerung des Begehrens durch die fortwährende Versagung dargestellt. Er sagt es zweimal in diesem Film zum Abschied. Die immerwährende Liebe ist die vermiedene.  Schau zu mir auf. Ich seh dich nicht mehr – und: seh dich jede Nacht vor mir.  Schau mich ein letztes Mal an.  Die Augen sind verschattet unter den Hüten. Schau mich an und geh fort. Schau mich noch einmal an, wie du geschaut hast, als du noch nicht wagtest, mir in die Augen zu schauen. Sieh dich nicht um. Schau nach vorn.  Ich werde dich immer sehen. Dort. Wo du sein wirst. Geschaut wird nicht, was das Auge sieht. Geschaut wird in die Ferne. Der Zukunft. Ohne dich. Mit dir. Für immer in deinem Blick. „Schau mir in die Augen, Kleines.“

2. Der tödliche Blick

Der liebende Blick sucht. Sieht den Geliebten überall. Das Blau einer Jacke hinter allen Sträuchern. Aus der Menge tritt einer hervor. Den fixiert der Blick. Das bist Du. Du bist der, auf den ich schaue. Zu dir hin. Auf dich drauf. Schnell wieder weg. Siehst du mich? Hast du mich gesehen? Blick und Gegen-Blick. In der Filmsprache heißt das: Schuss und Gegen-Schuss. Da ist was dran.

Aber: Schau dich ja nicht um. „Wenn Blicke töten könnten.“ Der Gesang der Liebe wird gezeugt aus dem tödlichen Blick auf die geliebte Frau. Das neue Leben des Sängers: Dante. Vergessen Sie nicht: Er sah sie zum ersten Mal, da war sie neun. (Sie trug ein rotes Kleid, damals.) Er war auch neun. Immerhin. Sie konnten zu einander nicht kommen. (Er war ja schon verheiratet, als er – mit 18 – sich ernstlich in sie verliebte). Nur schauen. Schaut ihr hinterher. In jungfräulichem Weiß schreitet sie einher. Seiner Seele prägt sich ihr Bildnis ein. Wieder: Geschaut wird nicht, was das Auge sieht.  Nur was das Auge sah, bringt zum Lieben (und Schreiben).

Doch so wie meine Blicke Euch gefunden,
Fährt mir ein Zittern jäh durch Herz und Haupt,
Und aus dem Busen will die Seele schweben.

Es ist ja nicht sie, die ihm das antut (also ihm das Herz aus der Brust reißt). Es ist ihr Bild. Unter all den Frauen sucht sein Auge sie, die holdselige Beatrice. Ihr Anblick ändert, scheint ihm, die ganze Molekularzusammensetzung seines Körpers. Was auf der Netzhaut der Augen sich eingebrannt hat, breitet sich aus gleich einem Ausschlag in und auf ihm. Ihren Gegen-Blick, den Schuss ins Herz, ersehnt er, als Medium der endgültigen Verwandlung.

Wer ihr ins Auge blickte sonder Bangen
Würd´ edel oder büßte ein das Leben.
Und wen sie würdig hält den Blick zu heben
Zu ihr, wird ihre Macht bei sich gewahren.

Die Alternative ist: Unter ihrem Blicke sterben oder ihn sich einverleiben. Ihre Schönheit  in seinen Worten.  Und er sieht sie im Traum, die er nicht haben und nur gelegentlich schauen kann; blutrot umhüllt ihren nackten Körper ein leichter Schleier, so zeigt sie ihm der Gott Amor. Und sie isst sein Herz. Die Liebe verzehrt. Und stirbt. Doch wird sie jetzt erst recht „geschaut“. Kein schönerer Anblick als eine schöne Leiche. Kein schönerer Gesang als der, den dieser Blick gebiert:

Und ich vom Wahn entrückt,
Ging hin, die süße Tote anzusehen.
Und als ich sie erblickt,
Da deckten mit dem Schleier sie die Frauen.
So süße Demut lag auf ihr hienieden,
Daß sie zu sagen schien: Ich bin in Frieden.

Die Geschaute kann nicht mehr zurück schauen. Das gibt den Frieden. Von dem er sich singt. Die Gefahr ist gebannt. Der Rückblick auf immer im Wort geborgen. Die Totgeschaute wird himmlisch. Den Engeln gleich. Wird die Tote geschaut. Vergessen Sie nicht: in der Bibel noch sind die Engel alle männlich. Verkünder. Erst die geschauten Engel sind Weiber mit güldenem Haar. Liebeslichter. Durchscheinender Schimmer. Der Reflex des schauenden Auges selbst. Was ich sehe, bist du. Du wirst, die ich sehe. Endlich. Mein Engel.

Denn ihre wonnesame Schönheit ward,
Nachdem sie schied aus unserem Verein,
verklärt zu geist´ger Schönheit hoher Art,
Die durch den Himmel gießet
Ein Liebeslicht, das alle Engel grüßet
Und jener hohen Geister Seligkeit
Erstaunen macht ob solcher Lieblichkeit.

Zurückschauen. Sie noch einmal sehen. Er kann auf ihren Anblick nicht verzichten. Aber: Lesen Sie genau.  Es geht nicht um ihren Augen-Blick. Kein Blickwechsel mehr. Er sucht nicht mehr ihre Augen. Jetzt sucht er ihr Bild. Sein Bild von ihr. Das wirkt tödlich. Die gebildete Frau hat kein Lebensrecht. In der Dichtung. (Wusste ich das schon? Immer.) Die Kehrseite des Pygmalion-Mythos. Was für eine Verzweiflung das ist bei ihm.  Für ihn. Er bleibt allein zurück. Wie er es auch wendet. Andererseits: wie hatte das Bild ihn gequält, als es sich noch selbst bewegte. Sich ihm entzog. Zurück schaute, manchmal, bevor sie die Augen niederschlug.

„Wenn Blicke töten könnten...“, lacht die Freundin. „Wenn... Der Konjunktiv. Sie können es ja nicht.“ Der Blick ist eine Waffe. Ach was, der Blick ist keine Waffe. Du kannst dich einfach rumdrehen. Dem Blick ausweichen. Das ist ganz leicht. Lass dich nicht blicken.


3. Durchs Schlüsselloch

Mein Freund T.B. liebt die Klischees. Und den Kitsch. (Das hört er nicht gern.) Er zeichnet einen Blick durchs Schlüsselloch. Ein riesiges Auge schaut auf eine unbekleidete Frau, die in sich versunken dasteht, das eine Bein hochgestellt auf einen Hocker, Standbein, Spielbein, die klassische Position, die den Körper strafft und ihm Dynamik und Ruhe gleichermaßen verleiht. Ausgewogenheit. Kein originelles Bild. Aber vielsagend.

Diana und Acteon. Susanna im Bade. Die Geschichte des Voyeurismus. Immer sind es Männer (oder pubertierende Jungs), die  sich anschleichen, um eine Frau unbekleidet zu sehen. Die Nacktheit verletzt die Scham. Interessanterweise wurde „Scham“ erst im 18. Jahrhundert (dem Zeitraum der zweiten Welle des Siegeszuges, den Auge und Bild im Abendland antraten; nach der ersten in der Renaissance) zum Begriff für die Verletzung des Ehrgefühls, zum „sich schämen“. Vorher bezeichnete das Wort einfach das Geschlechtsmerkmal selbst. Jetzt wird Scham zum Synonym für das Erröten der Frau unter den Blicken des Mannes, während der Mann beginnt sich zu schämen, wenn er beim Schauen „ertappt“ wird. Es geht ja auch nicht  gut aus für ihn in Mythos und Legende, das heimliche Schauen. Acteon, verwandelt in einen Hirschen, den die Hunde zerreißen. Und Susannas geifernde Greise werden hingerichtet. Keinen schönen Anblick bieten die Männer in diesen Geschichten.

Schliche sich je eine Frau in eine Männerumkleidekabine, um nackte Männerkörper zu schauen? Verborgen hinter einer Schranktür? Installierte eine über der Toilette eine versteckte Kamera, um seinen knackigen Hintern heimlich am Bildschirm zu bewundern? Möglich ist das. Wahrscheinlich nicht. Das heißt nicht, dass nackte Männerkörperteile nicht gefallen (und reizen) können. Ein flacher Nabel, sage ich mal, zum Beispiel, schmale Hüften. Und so weiter. Aber die Geschichte des heimlichen Schauens ist eine recht einseitige Angelegenheit. (Oder belehren Sie mich eines Besseren?) Woran das liegt? Männer schämen sich auch. Manche zumindest. Auch voreinander. Die Stimmung in Gemeinschaftsduschen, habe ich mir sagen lassen, ist nicht sehr entspannt. Woran liegt das? Frauen nehmen diese Anstrengung fürs heimliche Schauen kaum auf sich: aufs Dach klettern, sich anschleichen, zum Schlüsselloch bücken. So interessant ist das nicht, offenbar, ein Mann, der die Hosen runterlässt. Oder doch?


So unschuldig, wie es scheint, sind die Verschämten aber auch nicht. Eine Frau schämt sich unter dem Blick eines Mannes. Errötet. Denken Sie nach: Sie kann ja nur erröten, wenn sie weiß, dass sie beobachtet wird. Wenn sie gewahr wird, dass er sie sieht. Und genau um diesen Moment geht es: In dem sie erkennt, dass er sie sieht. So sieht. Und wie sie reagiert. Ob sie reagiert. Die Bedeckung der Scham. Jetzt. Oder: Zurück schauen. Den Blick erwidern. Das sehen wir:



Rembrandts Susanna. Ja, wie schaut denn die?  Die schaut uns an. Heraus aus dem Bild. Lenkt sie den Blick auf uns. Die sie betrachtenden Voyeure. Das stellt die beiden alten Lüstlinge in den Schatten. Unser Schauen. Und ihr Blick ist: überrascht, aber nicht erschrocken. Nicht fordernd, aber neugierig. Sie lässt sich sehen. Und sieht auf uns. Alles ist verwandelt. Sie gibt sich nicht hin unter unserem Blick. Sie gibt sich nicht auf. Sie schaut uns an. Erwartungsvoll. Wie werdet ihr euch stellen unter meinem Rückblick?

Schau zurück. Schau ihn an. Wie schön er ist. Wie verlegen.

Manchmal, sagt man, saugen Blicke sich fest.  Dieser noch nicht. Könnte aber.Womöglich.  Die Kluft überwinden. Die Distanz der Augen-Blicke. Berührungen. Der Hände. Am Ende schließen sie immer die Augen. Denke ich.

Dich lachen sehen

Dich lachen sehen dich mit den Händen berühren
Einen Tag mit dir leben ein Jahr drei Wochen
Ernstes Leben mit dir teilen zahmes Leben
Dich im Bett finden
Im Zimmer, wie du dich anziehst
Wie du nach Alkohol riechst rauchst
Im Sommer schwitzt
Oder wie du deine zerstreuten Augen schließt
Beim Lieben.

Idea Vilarino



II. Die Zähmung des Auges

Das Auge zu zähmen ist schwer. Wer zähmen will, muss sich in die Bestie hinein versetzen. Deshalb erfolgt die Zähmung des Auges in drei Schritten: 1. Dressur , 2. Durchschau, 3. Deckung. Es wird gefragt: Woran glauben die Augen-Dompteure?, Wer sieht auf die Herren in den Glaspalästen? Was geschieht hinter dem Schleier? S

Sie können nicht folgen? Folgen Sie!  (Wir fliegen durchs All, tauchen in die Tiefe und dringen in Höhlen vor.)

1. Die Dompteure: Mit den Augen zähmen

An Sonntagen hatten wir die Stunden im ersten weichen Dämmerlicht ganz für uns. Die Eltern schliefen aus. Still war es im Zimmer, unterbrochen nur vom leichten Schnaufen, das das Erwachen ankündigte. Hervorblinzeln unter der Decke. Bist du wach, fragt der Blick. Sich noch einmal räkeln. Wir klettern raus, ein jedes aus seinem Bett an der Wand; ich werfe die dünne grünblaugelbkarierte Decke über den Tisch in der Mitte des Zimmers. Schon ist unsere Unterwelt fertig, in die wir hinabsinken werden für die nächsten Stunden: Raumschiffer, Tiefseetaucher, Höhlenforscher; unaussprechliche Abenteuer in nie gesehenen Landschaften liegen vor uns, Ungeheuer zu zähmen, die nie zuvor ein menschliches Auge sah. Wohin? Setz die Brille auf. Durch die Seh-Löcher glänzt es morgenrot. Ein Angriff der galaktischen Drachen, aus deren Nüstern es giftiggelb schäumt. Schau ihnen in die Augen, halt ihren Blick fest! Wer zuerst blinzelt, hat verloren! Die Bestien senken die Lider. Winden sich hilflos am Boden. Unterwerfen sich, indem sie ihre Köpfe in unsere Schöße betten.



 „Es ist alles eine Frage der Konzentration, des Willens und der Augenkontrolle.“ (Aus dem Handbuch der Dompteure) Die Dompteure wenden den tödlichen Blick an, ohne  töten zu wollen. Es geht um Unterwerfung. Wer zuerst den Blick senkt, hat verloren. Die Umkehrung des Augenaufschlags. Der Blick des Dompteurs ist technisch mit dem der Liebenden zu vergleichen: Ansaugen, Fixieren, Festhalten. Wer zuerst den Blick senkt, ergibt sich. Andersherum: Wer die Augen (wieder) aufschlägt, stellt den Dressurerfolg in Frage. Fordert den Dompteur heraus. (Darin steckt im Übrigen die verborgene Aggressivität des – weiblichen – Augenaufschlags, denn das heißt: Versuch´s doch.) Die Dompteure lassen das wilde Tier nie aus den Augen. Es soll sich jederzeit der HERRschaft bewusst sein. Doch alles Schauen sichert nicht: Die Bestie bleibt dem Dompteur ein Mysterium. Stets muss der Dompteur gewärtig sein, dass das Raubtier ihn „vor aller Augen“ angreift.

Tatsächlich ist dies aber Unfug, ein bloßer Wunschtraum der Dompteure. Die reine Augendressur funktioniert nur in der Phantasie. Anderswo gilt: Du kannst kein Tier zähmen und keine Frau und keinen Mann, ohne Futter zu geben. Es ist alles eine Frage des Fressens. Shakespeare wusste das noch. In „The Taming of the Screw“ wird das widerspenstige Weib durch Nahrungsentzug gefügig gemacht

„What did he marry me to famish me?
Beggars, that come onto my father´s door,
upon entreaty have a present alms;
If not, elsewhere they meet with charity:
But, I, who never knew how to entreat,
Nor never needed that I should entreat,
Am starv´d for meat, giddy for lack of sleep;
With oats kept waking and with brawling fed.
And that what spites me more than all these wants,
He does it under name of perfect love.“

Der Augen-Trick: Die Technik des Blickes der Liebenden nutzen, um zu zähmen. Ein fürchterlicher Betrug. Zeig mir den Dompteur, der mit den bloßen Augen zähmt. Das Tier gehorcht, weil er es füttert und schlägt. Der Augen-Blick erinnert das Tier nur dran, wo das Fressen herkommt und wer die Schläge austeilt. Wer gezähmt ist, kann sich nicht (mehr) selbst ernähren. Und steht unter der Knute. Das ist das ganze Geheimnis. Zahm sein bedeutet: Aus der Hand fressen. Durch die Fiktion von der Augen-Dressur will sich der Dompteur vor allem selbst suggerieren, das Gezähmte folge seinem Blick, nicht der drohenden Hand mit der Gerte.  Es sei gebannt durch Liebe, nicht durch Furcht. Denn: Auch Dompteure wollen geliebt werden.

In der sichtbaren Welt des Dompteurs muss daher das Gezähmte immer wieder durch den Augen-Blick an die Zähmung erinnert werden: Denk daran, wem du gehörst, wer dich ernährt, wo du dein Haupt bettest, sagt der Blick, der sich alles unterwirft und alles entblößt. Der den Schleier weg- und die Vorhänge aufzieht, der sich nichts entgehen lässt und meint, dass sich ihm alles unterwirft. Worauf mein Auge fällt, gehört mir. Alles werde ich durchschauen. Stell dich vor. Zeig dich her. Da nehme ich mal Einblick. Wir werden uns einen Überblick verschaffen. Das ist leicht zu durchschauen. Schauen wir mal drüber. Der Blick des Dompteurs ist eine Bloß-Stellung des Gezähmten. Er führt den Gezähmten, das Gezähmte in seiner Nacktheit vor. Daher kommt die Aggression des Raubtiers. (Und die unterschwellige Angst des Dompteurs.) Sie werden immer wieder lesen: Der Dompteur wurde vor den Augen der Zuschauer von der Raubkatze angegriffen und zerrissen.

Was sind Sie? Dompteur, gezähmtes Raubtier, Zuschauer? Beziehen Sie Stellung!




2. Im Auge der Kolonial-Herren: Durchs Glas geschaut

Untergetaucht sind wir in tiefste Tiefen. Durchs schaurige Blaugrün schimmern uns die buntschönen Fische in mannigfaltiger Form. Sieh dich vor. Unser Scheinwerfer schwenkt über den Meeresgrund. Erhellt die schlammige Dunkelheit. Beleuchtet rotbraun zerklüftete Riffe. Beinahe wäre unser Schiff daran zerschellt. Aufgepasst: Gläserne Masten ragen spitz aus dem Boden. Eine Stadt aus Glas. Volle Durchsicht, Kapitän Nemo. Eye, eye, Sir.



Alles wird aufgeklärt, versprochen ist versprochen. Mit dem Licht der Aufklärung leuchten wir in die dunkelsten Ecken hinein. Wir werden endlich klar sehen. Putzen Sie die Fenster. Nehmen Sie die Butzenscheiben raus, setzen Sie transparentes Glas ein. Möglichst spiegelfrei. Von Schlieren und Streifen befreit Meister Proper.Holen Sie die Lupe heraus, Herr Meisterdetektiv. Das Präparat wird sorgfältig unter Glas verbracht. Eine mikroskopische Probe.

Die vermeintliche Gegenbewegung, romantisch, versprach den Horizont endgültig zu entgrenzen. Weiter noch als das Auge reicht. Der Sternenhimmel im Planetarium. Heinrich von Kleist erkannte richtig, wie dieser geweitete Blick das Auge selbst bar jeden Schutzes lässt: Es sei, schreibt er über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ als „ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ 




Da ist nichts mehr von Brentanos romantischem Sehnsuchts-Enthusiasmus zu spüren, sondern schon gesehen, dass der entgrenzende Blick in die Unendlichkeit dem Auge zuviel aufbürdet. Es muss nun immer schauen. Kein Lid senkt sich mehr gnädig vor das wenig Beschauliche. (In „Clockwork Orange“ wird folgerichtig später das nicht zuschließende Lid als Foltermethode eingesetzt.) Apocalypse now.  Kleist hat es schon gesehen:  Wem sich alles öffnet, der öffnet sich dem Grauen, dass hinter dem Horizont NICHTS ist. (oder: Batatailles „Geschichte des Auges“: Wer das Auge wirklich sehen will, muss es aus seiner Höhle herausschneiden. „Sir Edmond nahm, ohne mit der Wimper zu zucken eine Schere aus seiner Brieftasche, kniete sich hin, schnitt das Fleisch zurück, grub dann die Finger in die Augenhöhle und zog das Auge heraus, indem er die gespannten Sehnen durchtrennte. Dann legte er die kleine weiße Kugel in die Hand meiner Freundin.“)

Doch Kleists frühe Ein-Sicht hielt die Seh-Süchtigen nicht auf.  Nichts sollte ihrem Blick verborgen bleiben. Den Schleier lüften. Hinter den Vorhang sehen. Durch-Blicken. Rein-Schauen. Fern-Sehen. Im Hintergrund jedoch lauerte stets der Verdacht, dass die Augen betrogen werden. Dass was sie vorstellen, bloßer Schein ist. Auch deshalb wird der Bereich des Sichtbaren immer weiter ausgedehnt. Über die Grenzen des Sehfeldes hinaus: Panoramablick, Weitwinkel. Scharfstellung der kleinsten Details, bis hinein in die Körper und Blutbahnen: Rastertunnelmikroskop. Bildgebende Verfahren, die noch den Gedanken, den unser Hirn fasst, im selben Augenblick abbilden sollen.

Unsere Kultur wird eindeutig dominiert von der „Macht des Zeigens“. Dennoch wird häufig das Machtverhältnis, das diese Sehkultur abbildet häufig übersehen: Es gibt Vorzeiger, Vorführer,  Sichtbar-Macher und es gibt die Vorgezeigten, Vorgeführten, Sichtbar-Gemachten. Die Geschichte der Kolonialisierung ist ohne diese Geste nicht vorstellbar. Der Blick des Alles-Sehers auf das Fremde sieht dieses als ein Vorzuführendes. Nur keine Zurückhaltung. Die Kamera ist stets gezückt. Wie eine Waffe. Der Shoot Down. Die Seh-Kultur gewinnt immer. Schaut zuerst, blickt fester, schießt schneller.

Diese Asymmetrie betrifft in unserer Kultur unzweifelhaft auch das Geschlechterverhältnis. Vorgeführt, vorgezeigt, sichtbar gemacht wird regelmäßig der Körper der Frau. Der weibliche Akt. Dass und wie ein Mann eine Frau vorzeigen kann, zeigte für Jahrhunderte seinen Status an. Ehemänner führen ihre bekleidete Frau beim Abendessen vor. Der materiell unterprivilegierte männliche Künstler jedoch kann sein entkleidetes Model Zu-Sehen-Geben. Es geht nicht darum, dass sie sich vor ihm auszieht, sondern darum, dass er der Herr ist über die Ein- und Ausblicke der anderen auf und in ihren Körper. Indem er sie zeigt, führt er seine Kunstfertigkeit und seinen Künstlerstatus vor. Draufgehalten, abgeschossen. Der Jargon der Fotografen in der Model-Welt.

Die Türme der Herren dieser Welt-Kultur sind nicht zufällig aus Glas. Ihre Paläste sollen sichtbar werden und doch durchsichtig bleiben. Das war zu Zeiten ein Paradox. Was sichtbar wurde, manifestierte sich in undurchsichtigem Material. Das Haus hatte eine Fassade, die repräsentierte, was der Herr des Hauses war oder zu sein wünschte. Auch Ausblicke in schöne Gärten aus Terrassenfenstern wurden gern wahrgenommen. Mit den Jahren wurden die Fenster größer. Man will ja noch mehr von der Welt sehen. Und mehr von sich zeigen. Noch gibt es im Innern der Gebäude verborgene Kammern. Wo man sich umzieht und herrichtet und fein macht für die Vorführungen auf den Guckkastenbühnen. Diese Epoche, scheint es, neigt sich jedoch dem Ende zu.

Der konsequent ausgeführte Glaspalast müsste völlig transparent sein. Noch wird gepfuscht. Die scheinbare Durchsicht ist bloße Verspiegelung. Noch einmal verbergen sich die Herren der Welt hinter Glas. Entwerfen sie sich in den spiegelnden Fassaden im Bild der Anderen. Doch die Avantgarde schreitet voran. Durch- und Draufsicht. Grenzenlose Vor-Sicht. Nichts entgeht unserem Blick. CCTV an jeder Ecke. Seien Sie unbesorgt. Sie sind immer im Blick und immer im Bilde. Die Frage ist, ob den kulturlos gewordenen neuen Herrschern des Abendlandes das Geheimnis des kolonalisierenden Blickes noch bewusst ist in ihrer Seh-Hybris: Die Kamera darf nicht ins Bild. Der Fotograf bleibt unsichtbar. Kein Blick fällt auf den Bilder-Macher.

Wenn die Durchschauten endlich zurückschauen werden, wird das Seh-Spiel unübersichtlich. Doch auch die Vor-Führer treibt in der Seh-Kultur das Verlangen sich sichtbar zu machen. Der Siegeszug der Bilder-Welt in allen Kulturen wird sich gegen sie selbst wenden: Sie rückt ins Blickfeld der Anderen. Wer bisher die Bilder entwarf, wird nun selbst entworfen. Die Herren werden sichtbar, nicht mehr nur dort, wo sie sich sehen lassen wollen. Ertappt. Präpariert. Ausgestellt. Nackt-Gescannt.





Worin spiegeln Sie Sich? Wer schaut auf sie? Sind Sie im Bilde?
Zeigen sie (sich) her!



 3. Die Augen zähmen: Der verschleierte Blick

Schließlich retten wir uns in die dunkle Höhle vor gierigen Monstern, die uns zum Fraß wünschen. Schlüpfen hinein in das gut geschützte Versteck in den Bergen. Wärmen wir uns am knisternden Feuer. Wie duftet es aus dem siedenden Topf, den wir vor Stunden schon aufsetzten, um uns später zu stärken. Zieh den Vorhang aus Bärenfell zu, den wir vor den Eingang gespannt haben. Lass uns ausruhen, Bruderherz.





„Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu fürchten.“, kreischt der gesunde Menschenverstand. „Privatsphäre ist überholt“, höhnt Mark Zuckerberg. Der Gründer von Facebook ist unser aller unblockbarer Freund. „Zeige dein Gesicht“, lautete der Slogan, mit dem die erste Staffel von „Big Brother“ beworben wurde. Orwells Horrorvision des allgegenwärtigen Auges wurde zum Markenzeichen einer Erfolgssendung. Es ist aber so: Wer nichts zu verbergen hat, ist ganz arm dran. Über wen jeder alles weiß, der ist todlangweilig. Der alles durchdringende Blick, die Geste, mit der überall und von allem selbstherrlich der Schleier gezogen wird, sie muss gezähmt werden. Nicht weil sie entblößt, wessen wir uns schämen müssten. Nicht weil unsere Verbrechen nicht ans Licht des Tages gezerrt werden sollen. Nicht weil wir uns verstecken wollen vor der Macht. Aber auch nicht, weil wir uns niemals schämten. Oder niemals Verbrechen begingen. Oder die Macht nicht zu fürchten hätten. Sondern weil wir Unterscheidung brauchen, weil wir keine Waren sind, die sich überall und an jeden verkaufen, weil es ohne Exklusivität keine Intimität gibt. Wenn alles zu sehen ist und alles ausgestellt wird, lohnt es sich nicht mehr hinzugucken.

Doch wie soll das Auge gezähmt werden? Wir erhielten einen Hinweis sehr früh: die Scham. Das Niederschlagen der Augen. Wir sahen aber auch: Wer die Augen niederschlägt, gerät leicht in die Haltung der Unterwerfung. Warum sollte ich mich schämen? Die Scham der Frau, das Geschlechtsmerkmal, zum Synonym geworden für die Moralkeule, die dir aufzwingen will, die Abweichung von der Norm als Schuldbewusstsein gegen dich zu richten. Die Rebellion des Andersseins im Erröten zu ersticken. Mann schämte sich, wenn er „ertappt“ wurde beim Schauen. Frau schämte sich, manchmal, dass sie erblickt wurde: nackt. Wie dankbar sahen wir, wenn sie den Blick hob und erwiderte. Keine Scham mehr. „Ich erröte unter deinen Blicken.“ Das muss aber nicht heißen: Ich fühle mich schuldig. Das kann auch bedeuten: Ich fürchte, dass du mich erkennst. Mein Verlangen nach dir. Wie sehr ich dich begehre. Ich will mich nicht preisgeben, bevor... Bevor ich ahne, dass auch du mich... Oder so: Liebste Freundin, ich senke mit einem Lächeln den Blick, durch den wir beide unser geheimes Einverständnis fast verrieten, von dem sonst keiner zu wissen braucht... Wirklich zur Erscheinung gelangen kann für unsere Augen nur, was aus dem Dunkel ins Licht drängt, hinter dem Vorhang hervorschaut, durch die Lider blinzelt. Verschleierte Blicke. Das Ausleuchten noch des letzten Winkels bringt in Wahrheit alles zum Verschwinden. Im gleißenden Scheinwerferlicht enthüllt sich: Nichts.

Zum faszinierenden Bild kann unseren Augen nur werden, was nicht entblößt wird, sondern sich enthüllt: „die Endlichkeit im Spiegel unserer Wahrnehmung, keine Personifikation, keine Allegorie, sondern: das Ereignis des Zeigens selbst.“ (Gottfried Boehm). Die Rückenansicht einer nackten Frau, die uns Georges Seurat gibt.




Sie erzählt uns nichts, sie ist. Für unsere Augen da. Erscheinend aus dem Farbenspiel der Punkte auf der Fläche. Schön. Unaufgeklärt. Aber nicht verdunkelt. Dass sie das Resultat eines Jahrhunderte währenden Kampfes ist: kaum mehr zu sehen. Es war ein Kampf darum, sichtbar zu werden, ohne den Schleier der Erzählung, ohne die Verhüllung durch die mythischen und christlichen Narrationen. Zu Tode gesiegt aber hat sich der aufklärende Blick, wenn auf jedem Illustriertentitel eine laszive Halbnackte sich gut ausgeleuchtet räkelt und von den Dächern der einschlägigen Etablissements die FKK-Reklame rot leuchtet. Freikörperkultur ist unerotisch. Man sieht alles. Und es gibt nichts zu sehen. Wenn sich die Bilder im Abbild erschöpfen, entleeren sie sich. Sie müssen, um wieder Kraft zu gewinnen, zu mehr in der Lage sein, als das Reale visuell zu substituieren. Was wir sehen, sehen wir gewöhnlich nicht. Wir sehen erst, was Sinn schöpft. Der Sinn jedoch entsteht nicht im durchleuchteten Raum. Er speist sich aus der Dunkelkammer. In der belichtet wird.

Schon immer steht das Bild auch für einen Aufstand wider den moralischen Imperativ des  „Du sollst...“ Der unsichtbare Gott verbietet nicht das Schauen, sondern sich vom Geschauten ein Bild zu machen. Er weiß, dass das Bild auch der Geist ist, der stets verneint: überdeckend, entgrenzend, Formen auflösend, tilgend, bleichend, ausradierend, schwärzend, verwüstend, schwebend. Das Bild negiert die Wirklichkeit, in dem es ein Zeigen eigener Ordnung etabliert: Es mag die Welt geben, sagt das bildgebende Auge, aber es gibt auch mein Schauen in die Welt. Durch das ich mir ein eigenes Bild mache.

Ich sach mit minen ougen
Man unde wipe tougen,
da ich gehörte und gesach
swaz iemen tet, swaz ieman sprach.

So singt Walter von der Vogelweide. Aus dem Schatten blickt er hervor und sieht: Rom, das in der Verlogenheit versinkt, den „meiste strit, der e wart oder iemer sit“, ein schreckliches Gemetzel, an dessen Ende das päpstliche Reich untergeht. Es ist untergegangen, auch wenn da immer noch einer in Rom haust, der unser Schauen vor Bildern hüten will, die die Moral gefährden. Die Zensur zuckt noch ; sie will sich allerorten wieder vom Boden erheben. Wir kämpfen an zwei Fronten.




Eva und die Schlange. Der Baum der Erkenntnis. Schau her. Kein Weg zurück ins Paradies. Sich sehen lassen. Und hinschauen. Hinter die Aufklärung zurück kann sich keine Frau wünschen. Denn es war der Körper der Frau, an dem das „Du sollst...“ zuvorderst ausagiert wurde. Dessen sie sich zu schämen hatte. Der entblößt wurde durch die Hand des Besitzers. Dem ein Schleier verpasst oder genommen wurde durch die Macht. Die Schönheit der Frau zur Ware degradiert. Ein Handelsobjekt, durch das der aus dem Paradies verstoßene Patriarch wieder mit seinem Gott handelseinig zu werden suchte. Dagegen: Die Schlange als Schmuckstück. Der Frau fehlt nichts. Sie ist. Im Bild. Das nur zur Erscheinung gelangen konnte durch die Aufklärung hindurch. Doch nun nichts mehr klärt: Meat joy. Meet joy. Yeah.

Das Auge zu zähmen, hatte ich versprochen. Das Auge zu zähmen, heißt nicht, sich die Welt vertraut machen. Wer zu dieser Zähmung antritt, muss sich arg hüten, nicht mit den Hütern der Sittlichkeit an einem Strang zu ziehen. Es darf nicht darum gehen, die Augen zu verbinden. Oder ihr Sichtfeld durch Scheuklappen einzuschränken.

Das Auge zu zähmen heißt vielmehr: die Welt als Unvertraute wahrnehmen. Das Geheimnis der Liebe. Blickwechsel. Die nichts durchschauen. Die nichts aufdecken. Die aber sich erkennen im schimmernden Spiegel des anderen Auges. Das fremd doch immer bleibt. Das Auge soll nicht abbilden, sondern einbilden. Die Freisetzung einer ungeheuren Kraft. Die aus dem Dienst genommen wurde, in den sie ein Jahrtausend gestellt war,  durch den aufklärerischen Impetus: mit den „Augen der Einbildungskraft“ schrieb Loyola in den „Betrachtungen über die Hölle“ sollten „die unermesslichen Feuergluten und die Seelen wie in feurigen Körpern“ gesehen werden. Was der Jesuit beschwor, um zu ängstigen und zu unterwerfen, könnten wir freisetzen, um Lust zu empfinden.Wir kämpfen an zwei Fronten: gegen die Wächter der Sittlichkeit, die unsere Einbildungskraft in Bahnen lenken wollen und gegen die Wächter der Sicherheit, die uns die Schau stehlen wollen durch ihre gleißenden Scheinwerfer, die alles durchleuchten.

„raubvogelgleich mein Herz nach Beute äugend“, schreibt Friederike Mayröcker. Das Herz sieht nicht, hatte ich in meiner Abwehr gegen das moralische Gefühl, das nur mit ihm „gut“ sehen mag, gedacht. Doch mag das Herz zum Auge werden: als beutegieriger Raubvogel.

Adlerauge, sei wachsam.

„Keinen Mucks hört man am Sonntagmorgen aus dem Kinderzimmer“, erzählte meine Mutter gern. Und: „Wenn´s drauf ankommt, stecken die zwei unter einer Decke.“ Da waren wir. Ganz still. Alles für unsere Augen da. Die dunkle Schwärze der Tiefe. Das hellste gleißende Licht. Ein rotes Glühen durch die grünblaugelben Wollfäden. Verborgen jedermann sonst.