Freitag, 11. Oktober 2013

INWENDIGES BRÜTEN ("Wie sich das Schöne entstellt, wenn es begehrt.") (Aus der Serie: FABELWESEN)


Die Vivipara schmiegte ihren Oberkörper flach auf den leer geputzten Konferenztisch, nachdem alle den Raum verlassen hatten. Auch das Gesäß hob sie über die Tischplatte und ließ sich langsam über die glänzende Fläche gleiten. Unter der zarten Bauchhaut vermeinte sie beim Scheuern über die Platte die Eier zu spüren, die sie inwendig ausbrüten würde, wie es ihre Art war. Hinter ihrer flachen Stirn züngelte gleich einer heißen Flamme der Triumph, den sie sich soeben gegönnt hatte. Zweimal ließ sie den geschuppten Schwanz auf den Tisch schlagen, bis ihr auch wieder, so war sie neuerdings beschaffen, die Scham ins Bewusstsein stieg. Sie sah sich gleichsam von oben dort liegen: der Rocksaum, der sich bis zu den Backen hochgeschoben hatte, ihr Hinterteil, das sich vom Tisch hob, und wie sie die Spitzen der lederschuppigen Stöckelschuhe, die sie sich nicht hatte versagen konnte, durch diese harten Schläge beschädigte.

Die Vivipara ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Wenn einer sie gesehen hätte... Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Dennoch konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. Wenn sie einer gesehen hätte, wäre er wiederum (wenn es ein er gewesen wäre) erschrocken zusammengezuckt, sicherlich, doch ebenso sicher, wusste sie, hatte sie sich ja nun sagen, bestätigen, geradezu beschwören lassen, ebenso sicher hätte er ein Verlangen verspürt, eine Gier, wäre ein Druck in ihm entstanden sich fortzupflanzen, unmittelbar, schutzlos, das ganze Programm wie auf Knopfdruck ausgelöst, das die Zivilisation so aufwändig in Bahnen gelenkt und mit Ritualen umstellt hatte. Diese Menschen in ihrer Hilflosigkeit gegenüber ihrem Verlangen amüsierten und dauerten sie. Sie machten sich alles so schwer. Aber gerade das machte sie interessant für die Vivipara und ihre Auftraggeber.

Die Vivipara hatte es wie geplant bis an die Spitze der Kommission geschafft, die  gegründet worden war, um Kontakt aufzunehmen. Sie waren willig und wissbegierig, diese eigenartigen Kreaturen, und auch, die Vivipara konnte sich das inzwischen eingestehen, nicht vollkommen dumm. Immerhin hatten sie bemerkt, dass etwas Eigentümliches vor sich ging. Sie hatten die Zeichen eben gedeutet, wie sie es verstanden. Dass sie irre geführt wurden, gerade hier, inmitten ihrer Bemühungen zu begreifen, konnte ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Am wenigsten (die Vivipara musste leise kichern) am wenigsten von ihr, die diese Verwirrung nicht inszenierte, sondern geradezu war. Sie hatten zu zweifeln begonnen, aufgewiegelt durch diesen Einsamen, der mehr noch als die anderen die Sehnsucht spürte, die sie alle bestimmte, und sie, die Vivipara, hatte sich diese Empörung, die sich gegen sie zu richten begann, zu Nutze gemacht. „Wir gestehen es.“ 

Wir gestehen, wie sehr wir begehren. Wir gestehen unsere Lust. Wir können nicht an uns halten. 

Die Vivipara lehnte sich zurück. Das war die größte Lüge von allen, zu der sie sie verführt hatte. Denn sie blieben selbstverständlich gezähmt. Sogar ihr war die Scham auferlegt worden, damit sie ihre Aufgaben erfüllen konnte. Was eine Schwäche gewesen wäre unter den Unmenschlichen, hätte man unter diesen von der Scham auch nur eine Ahnung gehabt, wurde ihr hier zur Instrument der Macht. Nur wer Scham fühlt, kann beschämen.

Die Vivipara, in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende, stellte per Skype die Verbindung zu Dr. L. her. „Sie brauchen Lob.“ Das hatte man ihr gleich zu Beginn ihrer Mission eingeschärft.

***

Dr. L. fuhr den Bildschirm herunter. Es war ein gutes Gespräch gewesen, das sie mit der Vorsitzenden per Skype geführt hatte. Ganz offensichtlich war man zufrieden mit ihr. Kleine Öffnungen bei der Patientin. Ein fadenscheiniger Kontakt. Das reichte denen schon. Sie grinste bitter. Sie war gut. Das wusste sie, aber sie konnte nicht stolz darauf sein. Sie war gut darin, das zu produzieren, was man sich eben so vorstellen konnte. Die Vorsitzende hatte sie gelobt: „Es gelingt ihnen wie keinem ihrem Vorgänger, die Psyche ihrer Patientinnen zu beschreiben, sie für uns nachvollziehbar zu machen. Wir waren beeindruckt. Die ganze Kommission. Wir konnten endlich gemeinsam ein tieferes Verständnis für die inneren Vorgänge gewinnen.“ Sie hatte schlicht „Danke“ gesagt. So war es immer gewesen. Sie hatte diese Gabe, den Leserinnen ihrer Texte das zu geben, was sie wollten: Geschichten, in denen geschah, was ihnen einleuchtete. Fremde Erfahrungen, scheinbar, zum Nachvollzug vorgelegt: So sind die also, die Verrückten. Das stellte fast alle zufrieden: die Kolleginnen, die Verlegerin und die Käuferinnen jener Bücher über ihre Arbeit, die so erfolgreich  waren und sie reich gemacht hatten.

Ich weiß nicht, dachte sie, was in meinen Patienten vorgeht. Aber ich weiß, was ihr euch darüber dazu ausmalen könnt. Dafür liefere ich euch die Vorlagen. Malen nach Zahlen. Damit euch das Fremde nah rückt und klar wird. Immer nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Darauf kommt es euch an. Am Ende seid ihr beruhigt: Wir sind doch alle gleich. Die Blinden und die Sehenden. Die Freier und die Huren. Die Männer und die Frauen. Die Mörder und die Ermordeten. Die Kranken und die Gesunden. Die Geschlagenen und die Schläger. Alle ganz menschlich. Sie hasste sich für dieses Talent. Sie bediente sich geschickt aus den klassischen und modernen Vorlagen in Bellestristik und Fachliteratur. Sie gab die Klischees in Brüchen wieder, die sie originell wirken ließen, bisweilen auch ironisch. Letzteres kam besonders gut bei denen an, die sich für Durchblicker hielten. Kunstfertig. Verlogen. Sie schuf schreibend die Beunruhigung durch das Andere aus der Welt, indem sie die Welt den Einbildungen über sie gehorchen ließ. Nichts erscheint euch realer als eure Fiktionen. Wer die Macht hat, definiert das Geschehen. Das stimmte ja auch. So tröstete sie sich über ihre Machenschaften hinweg.

Der Bestseller "Die erfundene Frau" hatte sie berühmt und zur Koryphäe gemacht, gleichermaßen als Literarin und Therapeutin. Selbstverständlich waren Neid und Missgunst nicht ausgeblieben. Man hatte sie Dilettantin genannt und sie der Scharlatanerie bezichtigt. Dennoch hatte es ihr diesen begehrten Posten eingebracht. Man hatte sie ausgewählt und sie wusste auch warum. Sie konnte, was hier gebraucht wurde: Den Schock, das Unbehagen, die andauernde Fremdheit weg erklären, weg schreiben, weg bilden durch jene Art Therapie, die weniger die Patientinnen therapierte als deren Umwelt, die das Ungeheuerliche handhabbar machte, einnordete in all die bekannten Erzählungen und Traditionen, was wir über uns zu wissen glauben und über alle anderen und vor allem, dass es einen Überblick gibt, einen Standpunkt aus, von dem aus die Anderen zu beobachten sind, statt sich einzugestehen, das jede immer schon verbunden ist. So sorgte sie mit ihren Geschichten für jenes Gleichgewicht, das behaglich, aber nicht zu langweilig war, weil es bestätigte, was man zu wissen glaubte. Das nämlich ist die Kunst (Oder: Was halt die Trottel für Kunst hielten und halten musste, die immer wieder die dämliche Frage wiederholten: Was ist Kunst?). 

In ihrer Profession war die zentrale Frage der Dummies dagegen: Was ist der Mensch? Akzeptiert wurden freilich auch hier genau und ausschließlich jene Botschaften, die aus der Schizo-Haltung kamen: Darüber sprechen zu können als sei man kein Mensch. Als könne man sich entscheiden, ins Wasser zu springen, als werde man nicht aus ihm geboren. Und vor allem: Die Lüge von der Gleichheit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie verachtete nichts mehr als dieses Denken, gerade weil sie an dieser Decke eifrig und erfolgreich mitwob, die alle Wahrheit zudeckte. Sie trat ans Fenster und warf den Kopf in den Nacken. Lachend. Die Befreiung durch das Lachen. „Brüderlichkeit“. Auf diese Weise kam sie heraus. Nur so. Nur mit einem Lachen. Dr L. stützte sich auf die Fensterbank und lehnte die Stirn gegen die kalte Scheibe.

Sie dachte an die B. Sie dachte eigentlich immer an die B. „Schwäne können nicht tanzen.“ Wie würde die B. über die Brüderlichkeit lachen. Wie könnten sich ihre Lachsalven vermischen. Und dann? Sie presste ihre Lippen heiß gegen das kühle Glas. So könnte sie die B. küssen. Sich mit ihrem Mund in die schöne Frau hineindrehen. Ihre Zunge in ihr versenken. Erschrocken zuckte Dr. L. zusammen. Im Spiegel des Fensters sah sie ihr eigenes verzerrtes Gesicht. Wie sich das Schöne entstellt, wenn es begehrt.

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KRYPTOZOOLOGISCHE ORDNUNGEN  (Zum Gesamt -Aufbau des Erzählwerks über die Fabelwesen)

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